Sofort wurde ihm schwindelig. Was von unten wie ein breiter, bequem zu begehender Balken ausgesehen hatte, das schrumpfte jäh zu einem schmalen Streifen von Holz zusammen, der unter seinem Gewicht bedrohlich schwankte und zitterte. Für einen Moment bekam es Aton so mit der Angst zu tun, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Er befand sich drei oder vier Meter über dem Boden, genau die richtige Entfernung, um einen Sturz mit großer Wahrscheinlichkeit zu überleben - dabei mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit schwer genug verletzt zu werden, um völlig hilflos liegenzubleiben.
Aton drängte die Vorstellung mit aller Macht zurück und sah wieder zu dem Loch im Dach hinauf. Obwohl er ihm näher war, schien es trotzdem viel weiter entfernt als gerade noch, und der Weg dorthin stellte sich plötzlich als nicht mehr annähernd so einfach dar, wie es vom Boden aus ausgesehen hatte. Tatsächlich waren die Dachbalken so breit wie zwei nebeneinandergelegte Hände, und es gab genug Sparren und Verstrebungen, an denen er sich festhalten konnte. Aber er war kein Hochseilartist, nicht einmal ein besonders guter Kletterer, und für einen Moment fragte er sich, warum er die Leiter eigentlich hier aufgestellt hatte, statt sie zur anderen Seite des Dachbodens zu tragen und unmittelbar unter dem Loch zu postieren.
Noch bevor er eine Antwort auf diese Frage finden konnte, flog die Klappe unter ihm mit einem solchen Knall auf, daß sie in tausend Stücke zersprang, und Kopf und Schultern eines seiner Verfolger erschienen in der Luke. Aton vergaß seine Furcht und seinen Schwindel, er lief unverzüglich los und turnte mit nahezu affenartiger Geschicklichkeit zwischen den Streben und Balken hindurch.
Der Schattenkrieger stemmte sich mit einem wütenden Knurren vollends durch die Luke und richtete sich auf, und nur einen Augenblick später erschien eine zweite, schemenhaft erkennbare Gestalt in der Öffnung. Einer der beiden Krieger war mit einem Satz bei der Leiter, die Aton stehengelassen hatte, und begann sie hinaufzuturnen, der andere verfolgte ihn knurrend und geifernd auf dem Boden. Aton hatte die Hälfte der Entfernung hinter sich gebracht, aber er war nicht sicher, ob er den Rest der Strecke auch noch bewältigen würde. Die Balkenkonstruktion unter seinen Füßen begann nun tatsächlich zu zittern, als sein Verfolger hinter ihm von der Leiter sprang und auf ihn zulief, und als wäre das noch nicht genug, spannte sich der zweite plötzlich - und sprang mit einem einzigen Satz in die Höhe! Seine ausgestreckten Hände ergriffen den Balken, auf dem Aton stand, und klammerten sich daran fest, dann zog er die Knie an und versuchte, ein Bein über den Balken zu schwingen.
Aton trat ihm kräftig auf die Finger. Das Wesen kreischte - es war kein Schrei, sondern ein schriller, schmerzerfüllter Laut, wie das gepeinigte Brüllen eines Tieres, nicht das eines Menschen -, ließ seinen Halt los und stürzte kopfüber nach unten, aber es drehte sich im Flug geschickt wie eine Katze und kam sicher und unbeschadet auf dem Boden auf. Nur einen Moment später hatte es sich herumgedreht und rannte in seinem sonderbaren Hoppelgang zur Leiter hin.
Der zweite Verfolger war bereits bedrohlich nahe gekommen. Aton balancierte über die Balken, so schnell er nur konnte, und ließ dabei auch noch das letzte bißchen Vorsicht fahren. Längst hielt er sich nicht mehr fest, sondern hoffte einfach darauf, keinen Fehltritt zu tun. Doch so schnell er auch war, sein Verfolger war ungleich schneller, denn er brauchte nicht auf das Gleichgewicht zu achten, sondern rannte einfach los. Aton konnte seine keuchenden, hechelnden Atemzüge hören, und als er über die Schulter zurücksah, erblickte er in der Dunkelheit unter der Kapuze nichts als Schwärze, als wäre da gar kein Gesicht. Nur die Augen des Unheimlichen glühten wie kleine, bernsteinfarbene Feuer.
Das Geschöpf kam immer näher. Noch ein paar Sekunden, und es mußte ihn eingeholt haben. Aton überschlug in Gedanken hastig die Zeit, die er noch brauchte, um das rettende Loch im Dach zu erreichen, kam zu einem Ergebnis, das ihm ganz und gar nicht gefiel, und beschloß, alles auf eine Karte zu setzen: Er stieß sich mit aller Kraft ab und überwand das letzte Stück mit einem gewaltigen Satz. Es waren gute zweieinhalb Meter bis zum nächsten Balken, aber die Angst - oder auch pures Glück - bewirkte ein kleines Wunder. Er erreichte ihn, landete mit weit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf dem schmalen Steg und fand sogar einen halbwegs sicheren Stand. Zur Sicherheit griff er nach einer Querstrebe, die sich über seinem Kopf spannte.
Das morsche Holz zerbrach unter seinen Fingern. Aton schrie auf, warf sich instinktiv nach hinten und ruderte wild mit beiden Armen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Verzweifelt tastete er irgendwo in der leeren Luft nach einem Halt, kippte weiter nach hinten - und fiel!
Eine eisenharte Hand griff nach seinem Arm. Atons Sturz wurde mit so grausamer Wucht aufgefangen, daß er glaubte, der Arm würde ihm aus der Schulter gerissen. Er schrie vor Schmerz, strampelte wild mit den Beinen und begann wie ein lebendes Pendel hin und her zu schwingen. Tränen schossen ihm in die Augen. Keuchend griff er mit der freien Hand nach oben, fühlte rauhes Holz und klammerte sich daran fest.
Im nächsten Augenblick hätte er es vor Schreck beinahe wieder losgelassen, denn als er den Kopf hob, um nach seinem Retter Ausschau zu halten, blickte er direkt in ein paar glühende bernsteingelbe Augen. Der Schattenkrieger hockte wie eine übergroße Kröte über ihm auf dem Balken und hielt ihn mit nur einer Hand fest, ohne daß er sich selbst irgendwo abstützte. Und als wäre dies alles noch nicht genug, zog er Aton nun langsam, aber ohne die geringste sichtbare Anstrengung zu sich auf den Balken hinauf und ergriff ihn auch mit der anderen Hand.
Aton bäumte sich mit aller Gewalt auf, warf sich zurück und zur Seite und versuchte, nach seinem Gegner zu treten, aber ebensogut hätte er versuchen können, einen Felsbrocken mit bloßen Händen umzuwerfen. Der Krieger war nicht größer als er, aber unter dem zerschlissenen Mantel schien sich ein Körper aus Stahl zu verbergen. Ohne auf Atons Gegenwehr auch nur im geringsten zu reagieren, richtete er sich wieder auf und begann, ihn auf den zweiten Schattenkrieger zuzuschieben, der mittlerweile herangekommen war. Die beiden packten Aton an Armen und Beinen und trugen ihn rasch über die Balken den Weg zurück. Grob wurde er wieder die Leiter hinunter und auf die Klappe im Boden zu gezerrt. Die beiden Krieger stellten ihn unsanft auf die Füße, und der eine hielt ihn an beiden Schultern fest, während sich der zweite herumdrehte und mit dem Fuß nach der obersten Leitersprosse tastete.
Als er sie berührte, erschien eine Hand in der Öffnung, schloß sich um das Fußgelenk des Unheimlichen und zerrte mit einem so plötzlichen Ruck daran, daß er mit einem Schrei nach hinten kippte und in der Luke verschwand. Eine halbe Sekunde später erscholl ein dumpfes Poltern und Krachen, das von seinem Aufprall einen Stock tiefer kündete. Der Krieger, der Aton gepackt hielt, ließ ihn überrascht los und wirbelte herum, doch auch seine Bewegung kam zu spät. Eine Gestalt erschien in der Luke, stemmte sich mit einer kraftvollen und schnellen Bewegung vollends in die Höhe und warf sich auf ihn. Das Geschöpf stieß ein drohendes Fauchen aus und hob seine schrecklichen Hände, aber der plötzlich aufgetauchte Angreifer duckte sich blitzschnell unter seinem Griff hindurch, packte seinerseits den vorgestreckten Arm des Kriegers und brachte ihn mit einem Ruck aus dem Gleichgewicht. Der Unheimliche stolperte, fand im letzten Moment seinen Stand wieder - und schien dann wie durch Zauberei den Boden unter den Füßen zu verlieren. In hohem Bogen segelte er über den Rücken des anderen hinweg, überschlug sich zwei-, dreimal in der Luft und prallte mit einem solchen Krachen gegen den Dachbalken, daß das ganze Gebäude zu erzittern schien. Lautlos sank er in sich zusammen und blieb liegen. Das Ganze war so schnell gegangen, daß Aton gar nicht richtig begriff, was geschah.