Aber damit hörten die erfreulichen Überraschungen, die das Palast-Hotel für ihn bereithielt, auch schon auf. Seine Mutter war nicht mehr hier. Der Angestellte sah geduldig mehrmals in seinem Computer nach und zeigte Aton schließlich sogar das Gästebuch, als dieser hartnäckig darauf beharrte, daß seine Mutter einfach hier sein müßte. Aber die Unterschrift auf dem Kontrollblatt bewies ihm, daß der Mann die Wahrheit sprach: Atons Mutter war am Abend zuvor abgereist, obwohl sie für eine ganze Woche gebucht und auch im voraus bezahlt hatte. Der Mann schien Atons Enttäuschung zu spüren, denn er tat etwas, wozu er gar nicht verpflichtet gewesen wäre: Er rief einen seiner Kollegen herbei und unterhielt sich einige Augenblicke auf arabisch mit ihm, dann erklärte er Aton, daß seine Mutter nach einem Telefonanruf ziemlich überhastet ihre Sachen gepackt und ausgecheckt hatte. Er tat sogar noch ein übriges. Zwei oder drei Telefonate (die Sascha mit einem ansehnlichen Bakschisch belohnte) brachten die Auskunft, daß seine Mutter nicht mit dem Taxi zum Flughafen gefahren war, sondern sich einen Mietwagen und einen Fahrer besorgt hatte. Das war alles, was der Mann Aton mitteilen konnte, doch obwohl ihm diese Informationen erbärmlich dürr vorkamen, schienen sie Sascha eher zu erfreuen.
»Damit dürfte ziemlich klar sein, wo sie ist«, sagte sie.
»So?« fragte Aton mißmutig.
»Sie ist zurück zur Baustelle gefahren«, sagte Sascha.
»Wie kommst du darauf?«
»Wohin sollte sie wohl sonst?« erwiderte Sascha. »Glaubst du, sie hat das Hotel mit all ihrem Gepäck und mitten in der Nacht verlassen, um sich die Pyramiden anzusehen oder den Assuan-Damm?«
»Dann müssen wir ihr nach«, sagte Aton.
Sascha nickte. »Aber nicht heute«, antwortete sie. »Wir brauchen beide Schlaf. Du vor allem«, fügte sie in einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete.
Aton protestierte trotzdem, wenn auch nur sehr halbherzig. Er war tatsächlich sehr müde.
Sascha wandte sich erneut an den Hotelangestellten und mietete für sich und Aton ein Zimmer. Sie bestand darauf, daß es einen zweiten Ausgang hatte und in der Nähe des Aufzugs lag, was den Mann zu einem erstaunten Stirnrunzeln veranlaßte. Aber er händigte ihr höflich einen Schlüssel aus, und schon wenig später fuhren sie im Lift nach oben.
»Vielleicht hätten wir nicht hierbleiben sollen«, sagte Aton. »Petach wird zuallererst in diesem Hotel nach mir suchen.«
»Petach ist tot«, erinnerte ihn Sascha.
»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Aton heftig. »So schnell bringt ihn nichts um. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt sterben kann.«
»Wenn das wirklich so ist, wird er uns sowieso finden«, antwortete Sascha ruhig. »Ganz egal, wo wir uns verstecken.«
»Aber wir -«
»Wir können in diesem Hotel bleiben und uns ausschlafen«, unterbrach ihn Sascha, »oder mitten in der Nacht losfahren, bis wir vor Erschöpfung nicht mehr weiterkönnen und dann darauf hoffen, dort draußen in der Wüste nicht überfallen zu werden. Was ist dir lieber?«
Ihre Worte waren auch diesmal von einer so zwingenden Logik, daß es Aton einfach nicht möglich war, zu widersprechen. Trotzdem gefiel ihm die Idee nicht, in diesem Hotel zu bleiben. Aber Sascha hatte natürlich recht - wenn ihre Verfolger tatsächlich so übermächtig waren, wie Aton mittlerweile glaubte, dann wären sie tatsächlich nirgendwo sicher und hätten nur noch die Wahl, ununterbrochen in Bewegung zu bleiben, bis sie eben, ganz wie Sascha gesagt hatte, vor lauter Erschöpfung einfach nicht weiterkonnten.
Sie betraten das Zimmer, das im vierten Stock des Hotels lag und angefangen vom Farbfernseher bis hin zu einer überdimensionalen Badewanne jeden nur erdenklichen Luxus bot. Sascha schien sich jedoch viel mehr für das Fenster und den zweiten Ausgang zu interessieren, der im anderen Teil der Suite lag. Sie kontrollierte beides sehr sorgfältig, überzeugte sich pedantisch davon, daß Türen und Fenster sicher verschlossen waren, und deutete schließlich zuerst auf das Bad, dann auf den Ausgang. »Ich muß noch einmal fort«, sagte sie. »Nicht sehr lange, keine Sorge. Aber es ist besser, du schließt ab und läßt niemanden herein, ganz egal, wen.«
»Wohin gehst du?« fragte Aton erschrocken. Der Gedanke, allein hier zu bleiben, war ihm mehr als unangenehm.
»Ein paar Sachen besorgen«, erwiderte Sascha. Sie bemühte sich, ein beruhigendes Gesicht zu machen. »Ich habe unten einen Laden entdeckt, der offensichtlich noch auf hat. Du brauchst frische Kleider, und wir benötigen auch noch einige Dinge für die Reise. Wie weit ist die Baustelle deines Vaters entfernt?«
Aton überlegte einen Moment. »Vier- oder fünfhundert Kilometer«, antwortete er schließlich.
»Zu Hause wären das wenige Stunden«, sagte Sascha. »Aber ich fürchte, hier ist es eine gute Tagesreise. Ich muß mich um einen anderen Wagen kümmern. Und eine Ausrüstung zusammenstellen. Aber keine Sorge, ich bin bald zurück. Warum nimmst du nicht ein Bad, während ich fort bin?«
Aton wollte nicht, daß sie ging. Er wollte um nichts in der Welt allein bleiben. Aber er kannte Sascha mittlerweile gut genug, um erst gar nicht zu versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Meinetwegen«, sagte er in wenig begeistertem Ton.
»Denk dran, laß niemanden herein«, schärfte ihm Sascha noch einmal ein. Sie schwenkte ihren Zimmerschlüssel. »Ich bin gleich zurück.«
Sie ging. Aton hörte, wie sie von außen abschloß, aber er blieb noch eine ganze Weile stehen und starrte die geschlossene Tür an. Ein sonderbares Gefühl von Einsamkeit beschlich ihn. Obwohl er vor einer halben Stunde erst selbst darauf bestanden hatte, daß Sascha sich nicht mehr um ihn kümmerte, wäre er ihr nun am liebsten nachgelaufen. Erst jetzt, als sie nicht mehr da war, spürte er, wie sicher und geborgen er sich in ihrer Nähe gefühlt hatte. Mit Sascha schien noch etwas das Zimmer verlassen zu haben.
Er tat, was sie ihm geraten hatte. Aton ging ins Bad und ließ die Wanne ein, und er hatte sich kaum in das warme Wasser sinken lassen, da fühlte er nicht nur eine wohlige Entspannung, sondern auch eine tiefe, beruhigende Müdigkeit. Seine Glieder wurden schwer, und auch seine Gedanken begannen, eigentlich zum ersten Mal, seit er das Flugzeug verlassen hatte, wieder in ruhigeren, geordneteren Bahnen zu laufen.
Er wurde schläfrig. Wieder aus der Wanne zu steigen und in den Hotelbademantel zu schlüpfen, der griffbereit an einem Haken neben der Tür hing, kostete fast seine ganze Kraft. Er taumelte mehr zum Bett, als er ging, und er schlief ein, noch bevor sein Kopf das Kissen richtig berührte.
Er erwachte kaum eine Stunde später, und er spürte sofort, daß er noch immer allein war. Sein Herz klopfte. Er hatte wieder seinen Traum gehabt, konnte sich jedoch diesmal nicht an Einzelheiten erinnern, sondern nur an ein Gefühl von Furcht und Verfolgtwerden, und sein erster Blick galt der zweiten Hälfte des Bettes neben sich. Es war unberührt. Sascha war nicht da, und sie war auch nicht da gewesen, denn Decke und Kissen lagen noch so sauber bezogen und gespannt da wie vorhin.
Aton richtete sich auf und sah auf die Uhr. Es war nach vier. Seit Saschas Fortgang waren gute zwei Stunden verstrichen, aber die Beunruhigung, die sich bei diesem Gedanken in ihm breitmachte, wich fast sofort wieder, als sein Blick auf den Stuhl neben dem Bett fiel. Sascha war eindeutig hier gewesen, denn auf dem Stuhl lagen die frischen Kleider, die sie ihm versprochen hatte: ein weißes Hemd in einer durchsichtigen Zellophantüte, sorgsam gefaltete Jeans und kräftiges Schuhwerk, das in einem Land wie diesem beinahe das Wichtigste darstellte. Er fragte sich, warum sie wieder gegangen war.