Obwohl er noch immer müde war, stand er auf. Mit hängenden Schultern schlurfte er ins Bad, fand seine Kleider genau dort, wo er sie einfach fallen gelassen hatte, bevor er in die Wanne gestiegen war, und begann seine Taschen zu leeren. Sie enthielten einige wenige Kleinigkeiten, darunter auch die mittlerweile vollkommen zerknitterte Visitenkarte, die Sascha ihm an jenem schicksalhaften Abend vor dem Haus seiner Eltern gegeben hatte. Aton nahm alles mit ins Zimmer zurück, stopfte seine spärlichen Habseligkeiten in die Tasche der neuen Jeans und entdeckte zu seiner Überraschung auch noch eine warme, pelzgefütterte Jacke über der Stuhllehne, die er vorher gar nicht gesehen hatte. Sascha hatte wirklich an alles gedacht. Hier in Ägypten war es zwar nicht annähernd so kalt wie zu Hause, aber auch hier herrschte Winter, und in der Nacht konnten die Temperaturen in der Wüste empfindlich tief fallen. Seine Schulter tat weh. Aton strich mit den Fingerspitzen über die winzige, harte Stelle, verschwendete aber kaum einen Gedanken daran. Die Verletzung meldete sich immer wieder einmal. Der winzige Steinsplitter mußte wohl auf einen Nerv drücken, denn er fühlte ihn um so unangenehmer, je erschöpfter - oder auch erregter - er war.
Auf dem Tisch entdeckte Aton eine zweite Überraschung. Sascha hatte einen kalten Imbiß gebracht. Sofort nach dem ersten Bissen meldete sich sein Hunger. Mit Ausnahme einer Kleinigkeit, die sie im Flugzeug bekommen hatten, hatte er die ganze Zeit praktisch nichts gegessen, und sein Magen begann nun hörbar zu knurren und forderte sein Recht. Aton hatte den Teller fast zur Gänze geleert, als er ein Kratzen an der Tür hörte.
Erschrocken verharrte er mitten in der Bewegung. Das Geräusch wiederholte sich. Es war nicht sehr deutlich, aber was er hörte, das reichte aus, ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Etwas kratzte und scharrte am Holz der Tür, und dazu glaubte er ein Hecheln und Schnüffeln zu vernehmen. Unsicher stand er auf, ging langsam auf die Tür zu und blieb auf halber Strecke wieder stehen. Was ihn zögern ließ, das war nicht allein die Erinnerung an Saschas Worte, auf gar keinen Fall die Tür zu öffnen, ganz egal, wer draußen war oder was geschah. Dieses Geräusch machte ihm einfach angst. Aton hörte es weiter scharren und kratzen, und seine Phantasie lieferte die passenden Bilder dazu, Bilder von einem großen, unmenschlichen Wesen mit glühenden Augen und krallenbewehrten Pfoten. Was immer auch dort draußen war, es war kein Mensch.
Ganz langsam bewegte er sich weiter, und ebenso langsam, beinahe wie gegen seinen eigenen Willen, hob er die Hand und streckte sie nach dem Türgriff aus. Erneut glaubte er Saschas Warnung zu hören, und das Kratzen und Scharren wurde lauter, seine Angst verdichtete sich zu einem fast greifbaren Gefühl, das ihm den Atem abzuschnüren schien. Aber zugleich wußte er, daß er die Tür einfach aufmachen mußte.
Was immer dort draußen auf ihn wartete, konnte nicht so schlimm sein wie die Schreckensbilder, die ihm seine eigene Phantasie vorgaukelte.
Mit zitternden Fingern drehte er den Schlüssel herum, drückte die Klinke hinunter und riß die Tür mit einem Ruck auf.
Er sah nur einen Schatten und nicht lange genug, um wirklich Genaues zu erkennen. Aton gewahrte etwas Großes, mißgestaltet Finsteres, das erschrocken vor ihm zurückprallte und dann schnell wie ein Wirbelwind davonhuschte, mit bizarren, vollkommen falsch wirkenden Bewegungen, etwas, was so groß war wie ein Mensch, aber nicht richtig proportioniert, und was mit hüpfenden Sprüngen um die Biegung des Flures verschwand. Das Ganze ging so schnell, daß Aton im allerersten Moment nicht einmal sicher war, ob er das Ding überhaupt gesehen hatte oder ihm seine Phantasie nur einen bösen Streich spielte. Aber dann sah er etwas, was seine Zweifel schlagartig beseitigte. Der Hotelflur war mit einem flauschigen, hellen Teppichboden ausgelegt, und unmittelbar vor der Tür seines Zimmers begann eine Spur. Sie war breit, und sie stammte von großen, feuchten Füßen - und es war ganz eindeutig nicht die Spur eines Menschen!
Langsam ließ er sich vor dem Fußabdruck in die Hocke sinken und streckte die Hand nach ihm aus, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Die Abdrücke ähnelten vage denen eines Hundes, aber sie waren so absurd groß, daß allein diese Größe die Ähnlichkeit schon wieder zunichte machte. Und das war noch nicht einmal das Unheimlichste. Das wirklich Schlimme war, daß die Spur zwar vor Atons Tür begann und hinter der Biegung des Flures verschwand, aber nirgendwo herkam, als wäre das Geschöpf geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht!
Aber wenn es das konnte und wenn es tatsächlich das war, wofür er es hielt, warum war es dann nicht einfach bei ihm im Zimmer aufgetaucht, um ihn zu holen, und vor allem: Warum war es geflohen, als er die Tür aufgemacht hatte?
Aton registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, fuhr herum und verlor prompt das Gleichgewicht, denn er hockte ja noch immer so da, wie er sich nach dem Fußabdruck gebückt hatte. Unsanft landete er auf dem Hosenboden, unterdrückte einen Schmerzenslaut - und atmete eine Sekunde später hörbar erleichtert auf.
Er hatte sich die Bewegung nicht eingebildet. Hinter ihm war tatsächlich etwas, aber es war kein Ungeheuer, sondern das Gegenteil. Hinter ihm stand eine kleine, schokoladenbraune Katze mit gelben Augen, die ihn mit jener gutmütigen Herablassung musterte, zu der von allen Geschöpfen auf der Welt nur Katzen imstande sind. Das Tier bewegte sich nicht, sondern stand einfach da und sah ihn an, aber es war etwas an der Art, auf die es das tat, was Atons Erleichterung sehr schnell wieder in Nervosität und Beunruhigung verwandelte.
Hastig richtete er sich auf und wich einen Schritt vor der Katze zurück. Sie rührte sich noch immer nicht, und Aton rief sich in Gedanken zur Ordnung. Seit seinem ersten Aufenthalt in Ägypten wußte er, daß der Anblick einer Katze hier zu den natürlichsten Dingen der Welt gehörte. Sie waren vielleicht keine heiligen Tiere mehr, wurden aber beinahe überall und beinahe jederzeit geduldet. Am Anblick dieser Katze war wirklich nichts Besonderes - vielleicht davon abgesehen, daß es ein außergewöhnlich schönes Tier war. Aton fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Gesicht, warf noch einen letzten, aufmerksamen Blick in die Richtung, in die der Schatten verschwunden war, und ging dann in sein Zimmer zurück. Sorgsam verschloß er die Tür hinter sich und legte sich, ohne das Licht auszuschalten, wieder ins Bett. Er war ganz sicher, daß er sowieso keinen Schlaf mehr finden würde, aber er irrte sich.
Yassir
Sie verließen das Hotel eine Stunde nach Sonnenaufgang. Sascha hatte ihn mit einem Frühstück geweckt, das für eine ganze Busladung ausgehungerter Touristen gereicht hätte, und sie hatte sich nicht nur passende Kleidung für ihre Weiterfahrt besorgt, sie sprudelte auch vor Energie nur so über und schien bester Laune zu sein. Aton hatte ihr nichts von seinem unheimlichen Erlebnis in der Nacht erzählt, und obwohl sie seine gedrückte Stimmung bemerkt haben mußte, war sie mit keinem Wort darauf eingegangen. Sie hatte auch einen anderen Wagen beschafft, einen robusten, allradgetriebenen Geländewagen, der aussah, als hätte er bereits dreimal die Strecke London-Tokio und zurück auf dem Buckel, aber zuverlässig lief.
Aton hatte sich die Frage erspart, wo sie den Großteil der Zeit über gewesen war. Er wußte, daß er sowieso keine zufriedenstellende Antwort erhalten hätte. Aber nachdem sie zehn Minuten gefahren waren und Sascha einmal kurz anhielt, um einen Blick auf ihre Karte zu werfen, stellte er eine andere Frage, die ihm fast ebenso wichtig war.
»Würde es dir etwas ausmachen, einen kleinen Umweg zu machen?«