Sascha hob den Blick von der Karte. »Du willst nach Gizeh?« vermutete sie.
Aton war sehr erstaunt. »Kannst du Gedanken lesen?« fragte er.
»Nein.« Sascha schüttelte lachend den Kopf und faltete die Karte zusammen, um sie ins Handschuhfach zu werfen. »Aber es ist nicht besonders schwer zu erraten, weißt du? Ich habe auch schon daran gedacht, mit diesem Yassir zu sprechen, von dem du mir erzählt hast. Ich weiß nur nicht, ob es eine gute Idee ist.«
»Ich auch nicht«, gestand Aton. »Aber vielleicht kann er uns sagen, was das alles bedeutet.«
Sascha zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?« sagte sie. »Es sind nur wenige Kilometer Umweg. Außerdem wollte ich die Pyramiden schon lange einmal sehen. Wenn wir allerdings zuviel Zeit verlieren, schaffen wir es heute nicht mehr bis zur Baustelle deines Vaters.«
»Das schaffen wir ohnehin nicht«, erwiderte Aton. Er machte eine Geste auf die Karte im Handschuhfach. »Die Strecke sieht vielleicht harmlos aus, aber sie ist es nicht. Wir kommen bestenfalls bis nach Amarna. Danach gibt es praktisch keine Straßen mehr. Es wäre völlig verrückt, in der Nacht durch die Wüste zu fahren.«
»Also gut«, sagte Sascha. »Vielleicht kann uns dieser Yassir ja weiterhelfen.« Sie fuhr wieder los, erspähte eine Lücke zwischen den Autos und wendete den Wagen mit quietschenden Reifen mitten im Verkehr. Ein wütendes Hupkonzert belohnte dieses Manöver, aber Sascha grinste nur und gab noch ein wenig mehr Gas. Auf den Straßen Kairos herrschte ein Getriebe, das mit keiner europäischen Großstadt zu vergleichen war. Und es waren nicht nur Automobile unterwegs, sondern auch Fußgänger, Radfahrer, Busse und Lastesel, die sich von dem Lärm und Chaos völlig unbeeindruckt zeigten und ihr möglichstes taten, das Durcheinander noch zu vergrößern. Aton war sehr erleichtert, als sie das Zentrum Kairos endlich hinter sich ließen und auf eine der wenigen Ausfallstraßen einbogen. Der Verkehr nahm kaum ab. Gizeh lag etwa zwölf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, und dort befand sich das, woran die meisten Menschen sofort denken, wenn sie das Wort Ägypten hören: die großen Pyramiden.
So überquerten sie zusammen mit einer ganzen Kolonne von Touristenbussen und Autos den Nil und fuhren die breite Straße entlang, an der nicht nur Wohnhäuser, sondern auch viele Hotels und Nachtlokale lagen. Sie brauchten eine gute Stunde länger, als Aton geschätzt hatte, und als sie den Wagen schließlich am Rande von Gizeh abstellten, um sich zu Fuß auf die Suche nach Yassir zu machen, war dort bereits eine große Anzahl von Touristen versammelt, die von einer weit größeren Anzahl von Fremdenführern, fliegenden Händlern, Bettlern und Kindern belagert wurde, die ihnen ihre Dienste anboten. Auch Sascha und Aton sahen sich ebenfalls sofort von fast einem Dutzend Einheimischer umringt, von denen jeder einzelne lautstark und gestenreich von sich behauptete, der beste Fremdenführer des Landes zu sein und ihnen große und gewaltige Geheimnisse zeigen zu können. Andere boten ihnen billige Souvenirs an, die sie in der Stadt für die Hälfte des Geldes hätten kaufen können, und wieder andere bettelten sie um ein Bakschisch oder Zigaretten an. Sascha sah ein bißchen unglücklich drein, aber Aton, der dies nicht zum ersten Mal erlebte, kannte auch einen todsicheren Weg, sich dieser Zudringlichkeit zu erwehren. Er behauptete einfach, kein Geld zu haben, woraufhin die allermeisten sofort das Interesse an ihnen verloren und auf der Suche nach anderen Opfern verschwanden. Nur ein einziger, etwas hartnäckigerer Bursche blieb zurück, den Aton unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen und der wenigen ägyptischen Worte, die er beherrschte, nach Yassir fragte. Der Mann tat zuerst so, als verstünde er ihn nicht, aber nachdem Sascha - auf einen entsprechenden Wink Atons hin - ihm einen Geldschein hinhielt, fand er sein Gedächtnis plötzlich wieder und deutete ihnen, mit ihm zu kommen.
Sie folgten der Touristenschar in einigem Abstand auf die Pyramiden zu. Auch für Aton, der sie schon gesehen hatte, war es ein grandioser Anblick. Die drei Pyramiden erhoben sich wie von Menschenhand geschaffene Berge vor ihnen, mehr als hundert Meter hohe Kolosse aus Millionen von Felsquadern, an denen Hunderttausende von Menschen ein Leben lang gearbeitet hatten. Es gab wohl niemanden, der die Pyramiden nicht von einem Bild oder aus dem Fernsehen kannte, aber ihr Anblick gehörte zu jenen, die man selbst erleben mußte, um sie richtig zu würdigen. Die Größe und die Aura von gewaltigem Alter, die diese steinernen Monumente umgab, ließen sich nicht in einem Bild festhalten. Man konnte sie auch nicht wirklich beschreiben, sondern nur spüren.
Sascha ging es nicht anders als ihm, wie er an ihrem Gesichtsausdruck ablas. »Es ist beeindruckend, nicht?« fragte er.
»Unvorstellbar«, bestätigte Sascha, ohne den Blick von den Pyramiden zu wenden. »Kaum zu glauben, daß Menschen das erschaffen haben sollen.«
»Und noch dazu ohne moderne Werkzeuge und Hilfsmittel«, fügte Aton hinzu. »Um die Steinblöcke in die jeweilige Bauhöhe zu befördern, errichtete man eine lange schräge Rampe aus Stein und Erde, über die die Quader hinaufgeschleift wurden.«
Sascha sah ihn ungläubig an, was Aton zu einem neuerlichen, heftigen Nicken veranlaßte. »Ja. Die Blöcke wurden von weither auf dem Nil hierhergebracht und dann auf einer Art Schlitten zur Baustelle befördert.«
»Eine unglaubliche Leistung«, sagte Sascha noch einmal.
»Um so mehr, wenn man bedenkt, warum sie es getan haben«, sagte Aton. Er schüttelte den Kopf, und seine Stimme wurde leiser. »Die Gottkönige wollten nach dem Tode eine dauernde und feste Ruhestätte haben. Deshalb mußten Sklaven und Fellachen diese schwere und oft tödliche Arbeit verrichten. So viel Schweiß, um einem Toten ein solches Monument zu errichten.«
»Es war wohl auch ihr Glaube«, sagte Sascha. »Es war stets der Glaube an etwas, der Menschen zu unglaublichen Leistungen beflügelt hat.«
Noch vor wenigen Tagen hätte diese Antwort Aton nicht zufriedengestellt, denn schließlich hatte er sie von seinem Vater schon oft genug gehört. Aber was er seither erlebt hatte, hatte sein Weltbild so gründlich durcheinandergeschüttelt, daß er im Moment gar nicht mehr wußte, was er glauben sollte und was nicht. Wenn das, was Petach ihm erzählt hatte, die Wahrheit war, dann war es schließlich auch nichts anderes als der Glaube der Menschen gewesen, der Osiris, Anubis und die anderen Götter überhaupt zum Leben erweckt hatte.
Sie nahmen das Gespräch nicht wieder auf, während sie weitergingen. Es war nicht der Moment zu reden. Die Größe des Anblicks schlug sie beide in ihren Bann, und was sie fühlten, das ging so tief, daß Aton für einige Minuten sogar den eigentlichen Grund vergaß, aus dem sie hier waren.
Aber er wurde wieder daran erinnert, und das auf eine sehr drastische Art.
Sie waren noch nicht in die Nähe der Pyramiden gelangt, wohl aber in die eines ebenso bekannten Gebildes, das vor ihnen aus dem Wüstensand ragte. Aton spürte einen eisigen Schauer, als er die gigantische steinerne Sphinx sah, die am Fuße der Pyramiden lag. Trotz der Zerstörungen, die die Zeit und die Menschen verursacht hatten, wirkte sie noch immer majestätisch, für Aton aber, der einem Wesen wie ihr schon einmal Auge in Auge gegenübergestanden hatte, auch furchteinflößend.
Ihr Führer blieb plötzlich stehen und deutete auf eine Anzahl kleiner Zelte im Wüstensand. Ein Dutzend Kamele war davor festgebunden, und vier oder fünf Fellachen in knöchellangen weißen und türkis Gewändern feilschten lautstark mit einer Anzahl Touristen um den Preis für einen Kamelritt. Einer der Einheimischen hatte bereits einen Kunden gefunden: Eine dicke Frau in einem engen Rock war auf den Rücken eines der Tiere geklettert, aber sie hatte alle Mühe, sich im Sattel zu halten, als sich das Kamel schwankend erhob. Die übrigen Touristen, aber auch die Einheimischen sahen mit mehr oder weniger unverhohlener Schadenfreude zu, wie sie heftig auf dem Rücken des Wüstenschiffes hin und her schwankte.