Vielleicht, überlegte er, lag es einfach an der Sphinx. Das steinerne Fabeltier beherrschte dieses Stück Land in weitem Umkreis. Und nach dem, was Aton - und auch Sascha - mit seinem lebenden Vorbild widerfahren war, hatten sie guten Grund, angesichts der gewaltigen Statue nervös zu sein.
Yassir blieb stehen und sah sich aus zusammengekniffenen Augen um. Eine ganze Weile verharrten auch sie schweigend neben ihm, aber dann war Saschas Geduld erschöpft. »Was wollen Sie uns zeigen?« fragte sie.
Yassir hob unwillig die Hand. Seine ganze Aufmerksamkeit schien den Touristen zu gelten. Der Großteil von ihnen hatte sich bereits in Richtung der drei steinernen Kolosse entfernt, aber eine kleine Gruppe von ihnen befand sich noch in unmittelbarer Nähe. Aton hielt nach der dicken Frau auf dem Kamel Ausschau, und er entdeckte sie tatsächlich. Sie hatte es immer noch nicht aufgegeben, mit dem störrischen Reittier zu kämpfen. Aber das Tier schien des Spieles überdrüssig geworden zu sein. Vielleicht hatte es auch einen Wink seines Besitzers aufgefangen, der Sache ein Ende zu machen. Jedenfalls machte es noch einen letzten, tolpatschig wirkenden Schritt und ließ sich dann in den Wüstensand sinken, damit seine Reiterin absteigen konnte. Es tat dies auf die seiner Gattung eigene Art und Weise, indem es nämlich zuerst die langen Vorderbeine einknickte, und die plötzliche Bewegung führte zu der Katastrophe. Die Touristin verlor endgültig den Halt im Sattel und purzelte kopfüber in den Sand hinunter.
Der Sturz war nicht schlimm. Die Frau fiel kaum einen Meter tief, und der weiche Sand bewahrte sie vor einer Verletzung. Trotzdem sprang die Frau mit einem wütenden Schrei wieder hoch, während ihr Mißgeschick von den Zuschauern mit schadenfrohem Gelächter quittiert wurde - und versetzte dem Kamel einen so derben Tritt, daß das Tier mit einem erschrockenen Knurren aufsprang und davonlief. Sein Besitzer begann lautstark zu lamentieren und vertrat der Frau mit ausgebreiteten Armen den Weg, als sie Anstalten machte, hinter dem Kamel herzulaufen. Sie brach ihre Verfolgung ab, hatte aber nun ein neues Opfer gefunden, auf das sie eine Flut von wüsten Beschimpfungen und Flüchen herabregnen ließ, gefolgt von einigen Hieben, unter denen sich der Mann erschrocken duckte. Als sie nicht aufhörte, auf ihn einzuschlagen, ergriff er mit beiden Händen ihre Handgelenke und hielt sie fest. Nun mischten sich auch einige der anderen Touristen ein. Zwei, drei Männer sprangen der Frau zu Hilfe, doch auch der Ägypter bekam Unterstützung. Ein zorniges Gerangel ging los, und obwohl es schließlich nicht wirklich zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kam, spürte Aton doch, wie nahe die beiden Gruppen der aufgebrachten Leute daran waren.
»So etwas passiert nun ständig«, sagte Yassir. Er drehte sich wieder zu Sascha und Aton herum und sah sie besorgt an. »Ich konnte es mir bisher nicht erklären, aber nach dem, was du mir erzählt hast ...« Er seufzte. »Ich war ein Narr, ich hätte es wissen müssen. Die Zeichen sind so deutlich.« Er wandte sich wieder um und sah zu den Pyramiden hinüber, deren Schatten Aton plötzlich dunkler und massiger vorkamen als noch vor einer Minute. »Dieser Ort ist den Toten geweiht. Osiris' Macht war hier schon immer stark.«
Sascha schauderte. »Man muß die Menschen warnen«, sagte sie.
»Sie würden euch nicht glauben«, erwiderte Yassir. »Und wenn - es wäre zu spät. Spürt ihr es nicht? All dieser Zorn und all diese Furcht ... Es ist der Geist der alten Götter, der ihre Seelen vergiftet. Und jeder böse Gedanke, jedes Quentchen Furcht, jeder Funke von Zorn nährt sie und stärkt ihre Macht.«
»Aber wenn wir gegen sie kämpfen -«
»Würdest du sie damit nur stärken«, unterbrach ihn Yassir. »Begreifst du nicht. Du kannst sie nicht bekämpfen, ohne Zorn zu empfinden, ohne Furcht, ohne Verzweiflung. Und all diese Gefühle stärken sie. Was immer du tust, es mehrt ihre Gewalt.«
Aton begriff nicht sofort, was diese Worte wirklich bedeuteten. »Das klingt, als wären sie unbesiegbar«, murmelte er dann. »Als hätte es überhaupt keinen Sinn, etwas gegen sie zu unternehmen.«
»Sie haben nicht umsonst länger über dieses Land geherrscht, als jemals zuvor und jemals danach Götter über Menschen herrschten.«
»Aber am Ende wurden sie doch besiegt«, sagte Sascha.
Yassir schüttelte den Kopf. »Sie wurden vergessen, nicht geschlagen«, sagte er. »Es war die Zeit, die sie besiegte, nicht die Menschen. Der einzige Feind, gegen den selbst die Götter machtlos sind. Du kannst keinen Kampf kämpfen, wenn jede Wunde, die du deinem Feind zufügst, seine Kräfte stärkt.« Er lächelte traurig. »Der Kreis schließt sich, Aton. Der Wanderer wird erlöst werden, und die Toten werden erwachen. Und keine Macht der Welt kann das jetzt noch verhindern.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Aton heftig. »Man kann immer etwas tun. Petach hat mich bestimmt nicht grundlos zu Ihnen geschickt. Sie müssen irgend etwas wissen, was uns weiterhilft.«
»Das ist richtig«, antwortete Yassir. »Aber ich bezweifle, daß es euch wirklich hilft. Ich weiß einen Ort. Es ist lange her, daß Petach zu mir kam und ihn mir anvertraute, und ich habe nie verstanden, warum. Und ich verstehe es jetzt weniger denn je. Denn dieser Ort ist wohl der letzte, an dem Aton jetzt sein will.«
»Ein Ort?« Aton wurde hellhörig. »Was für ein Ort?«
»Der Ort, an dem es geschah«, antwortete Yassir.
»Der Ort, an dem Echnaton ermordet wurde?« fragte Aton ungläubig.
Yassir nickte. »Und an dem die Toten liegen. Die sich in zwei Tagen aus ihren Gräbern erheben werden, um die Herrschaft der alten Götter neu zu festigen.«
»Wo liegt dieser Ort?« fragte Sascha.
»Es gibt eine Karte«, antwortete Yassir und sah zu den Pyramiden hinüber. »Ich kann sie euch zeigen. Aber nicht jetzt. In zwei Stunden, besser noch in drei. Wir müssen warten, bis all diese Menschen fort sind.«
»Die Karte ist dort drinnen?« fragte Sascha ungläubig.
Yassir nickte abermals. »Ein Relief, eingemeißelt in die Wand eines geheimen Raumes«, bestätigte er.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, sagte Aton, doch Yassir schüttelte den Kopf.
»Nicht jetzt«, antwortete er. »Es sind zu viele Menschen dort.«
Er wies zu den Häusern hinüber. »Geht ins Café ›E1 Raschid‹ und sagt dem Wirt, daß ich euch schicke. Wir treffen uns in zwei Stunden am Fuß der großen Pyramide.«
Das Geheimnis der Pyramide
Aton konnte sich nicht erinnern, daß ihm jemals zwei Stunden so lang geworden wären wie die nun folgenden. Er sah immer öfter auf die Uhr. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er begriffen hatte, daß Yassir sie zu einem geheimen Raum in der Cheopspyramide führen wollte. Archäologen, Wissenschaftler und Hobbyforscher hatten die drei Pyramiden auf alle nur erdenklichen Weisen untersucht und erforscht, vermessen und ausgelotet. Es gab buchstäblich keinen Quadratzentimeter in ihrem Inneren, der nicht zigfach kartographiert, fotografiert, untersucht und aufs genaueste studiert worden wäre. Und Yassir erzählte von einem Raum, den nur er kannte?
»Glaubst du, daß er die Wahrheit sagt?« fragte Sascha plötzlich. »Ein geheimer Ort in der Cheopspyramide!« Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt fast zu phantastisch, um wahr zu sein.« Sie lachte. »Am Ende zeigt er uns noch das Pharaonengrab, das nie gefunden wurde.«
Aton lächelte ebenfalls, aber er konnte ein leises Schaudern nicht ganz unterdrücken. Sascha sprach genau das aus, was er eben gedacht hatte. Er wollte antworten, aber in diesem Moment entdeckte er etwas, was seine Blicke auf sich zog. Unter der Tür des Cafes war eine Gestalt erschienen, ganz in einen schwarzen Mantel gehüllt und mit so weit nach vor gezogener Kapuze, daß ihr Gesicht nicht zu sehen war. Sie blieb direkt unter der Tür stehen, und obwohl Aton nichts erkennen konnte, wußte er doch mit Sicherheit, daß die Gestalt ihn und Sascha unverwandt anstarrte.