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Zombeck saß hinter seinem Schreibtisch und unterbrach das Gespräch, das er mit dem Mann ihm gegenüber geführt hatte, als er das Geräusch der Tür hörte.

Der Mann im Stuhl vor dem Schreibtisch wandte den Kopf und sah Aton an, und in diesem Moment erkannte ihn der Junge. Er hatte diesen Mann schon mehrmals gesehen, und zwar zu Hause bei seinen Eltern. Den Namen hatte er vergessen, aber er wußte, daß er ein Kollege und wohl auch so etwas wie ein Freund seines Vaters war.

»Komm näher, Aton«, sagte Zombeck. Er deutete auf den Mann. »Du kennst Herrn Petach?«

Aton nickte. »Wir haben uns ... schon ein paarmal gesehen«, sagte er zögernd. Verwirrt fragte er sich, was um alles in der Welt Petach hier tat. Ob es etwas mit dem zu tun hatte, was gestern geschehen war?

Petach war sehr groß und hager. Das wenige Haar, das er noch besaß, war grau mit weißen Strähnen und zu einem Kranz um den Kopf geworden. Eine randlose Brille mit kleinen runden Gläsern schien beständig von seiner Nase herunterzurutschen, und unter dem linken Auge saß ein kleiner Leberfleck. Petachs Gesicht war scharf geschnitten, und die dunkelgetönte Haut und die Form der Augen verrieten den Orientalen.

Aton trat zögernd einen Schritt näher - und hatte plötzlich einen Kloß im Hals, als er die Polaroidfotos sah, die zwischen Zombeck und Petach auf dem Schreibtisch lagen.

Die Bilder zeigten die kaputte Glasvitrine aus dem Museum.

Obwohl die Qualität der Fotos zu wünschen übrig ließ, war die Verheerung, die sein Zusammenprall mit Werner und dessen Freunden hinterlassen hatte, doch deutlich zu erkennen. Die Glieder der Kriegermumie waren verdreht, von der mumifizierten Katze war nun wirklich nicht viel mehr als ein Haufen Lumpen zu sehen, und die Vitrine ...

Aton spürte, wie sich ihm jedes einzelne Haar auf seinem Kopf sträubte.

Die Vitrine war zerborsten, und die Fotos machten deutlich, daß sämtliche Glasscherben nach außen gefallen waren. Der Boden vor dem zersplitterten Schrank war mit Tausenden winzigen Glasscherben übersät, und man hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß diese Glasscheibe nicht eingeschlagen worden war, wie Zombeck und alle anderen glaubten. So, wie die Scherben dalagen, gab es nur eine einzige mögliche Erklärung: Irgend etwas war von innen aus dem Schrank herausgebrochen.

Aton fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, und sein Entsetzen war Zombeck nicht entgangen. Er sah Aton stirnrunzelnd an, dann schüttelte er den Kopf, schob die Bilder mit der Hand zusammen und drehte den Stapel demonstrativ herum.

»Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Ich habe mit dem Direktor der Ausstellung gesprochen. Er war ziemlich aufgebracht, aber ich denke, unsere Versicherung wird den Schaden begleichen; zumindest den materiellen Verlust. Was den Rest angeht ...« Er seufzte. »Werner behauptet zwar nach wie vor, du hättest ihn in den Schrank gestoßen, aber ich glaube ihm nicht. Dir wird nichts geschehen, keine Sorge. Ich werde nicht einmal deine Eltern von diesem Vorfall in Kenntnis setzen.«

Das war für Zombecks Verhältnisse nun wirklich eine unglaubliche Großzügigkeit, aber Aton war momentan nicht in der Stimmung, sie entsprechend zu würdigen. Er starrte noch immer die Bilder an, und auch wenn er nun nur noch die glänzenden schwarzen Rückseiten der Polaroids sehen konnte, löste allein dieser Anblick ein neuerliches, eisiges Frösteln in ihm aus.

»Danke«, murmelte er.

Zombeck schien mehr Dankbarkeit erwartet zu haben, denn erneut erschienen Falten auf seiner Stirn. Dann aber zuckte er die Achseln und sagte: »Herr Petach ist hier, um dich abzuholen.«

Aton blickte überrascht auf. »Abholen?«

»Dein Vater schickt ihn«, bestätigte Zombeck mit einem Nicken. »Leider hat er keine schriftliche Bestätigung bei sich, wie es in solchen Fällen üblich ist«, fuhr er mit einem Seitenblick auf Petach fort. Er deutete auf das Telefon auf seinem Schreibtisch. »Und deine Eltern sind im Moment telefonisch nicht zu erreichen. Deshalb habe ich dich rufen lassen.«

»Aber wieso abholen?« wunderte sich Aton. »Die Schule ist doch noch nicht -«

Zombeck unterbrach ihn mit einer unwilligen Handbewegung. »Der Unterricht ist in wenigen Tagen beendet«, sagte er. »Ich habe mit deiner Klassenlehrerin gesprochen. Der Lehrstoff ist ohnehin bereits durchgearbeitet. Und was deine Leistungen angeht ... Nun, du weißt ja selbst. Ich gäbe meine rechte Hand dafür, wenn auch nur die Hälfte unsere Schüler so wären wie du.«

»Aber wieso denn?« fragte Aton.

Petach sah ihn verwundert an. Wahrscheinlich überraschte ihn Atons Reaktion - jeder andere Junge seines Alters wäre vor Freude, um eine Woche Schule und erst recht um eine Woche Internat herumzukommen, auf einem Bein gehüpft.

Aber er hatte den allergrößten Teil seines Lebens in verschiedenen Internaten zugebracht, was am Beruf seines Vaters lag, der ihn zu häufigen Reisen und manchmal zu monate-, wenn nicht jahrelangen Auslandsaufenthalten zwang. Er wußte, welche Umstände es seinen Eltern manchmal bereitete, ihn zumindest in den Ferien bei sich zu haben. Oft hatten sie ihn kurzerhand auf ihre Reisen mitgenommen. Und er wußte auch, daß sein Vater gerade in diesem Jahr kaum Zeit für ihn hatte. Er arbeitete an einem wichtigen Projekt in Ägypten, und seine Anwesenheit war jetzt unumgänglich notwendig.

Es hatte bis zum letzten Moment nicht einmal festgestanden, ob er die Weihnachtstage zu Hause oder wieder mal im Schatten einer Dattelpalme verbringen würde.

»Es ist einfach bequemer«, sagte Petach nach einer Weile. Er sprach ein fast akzentfreies Deutsch. »Dein Vater hätte sich extra zwei Tage freinehmen müssen, um dich abzuholen, und da habe ich vorgeschlagen, dich gleich mitzubringen. Ich bin sowieso auf dem Weg zu ihm. Wir müssen zusammen einige Vorbereitungen für seine nächste Reise treffen. Und für mich war es nur ein Umweg von wenigen Stunden.«

Plötzlich verspürte Aton einen leisen Schrecken. War zu Hause etwas geschehen, von dem sein Vater aus irgendeinem Grund nicht wollte, daß man es hier im Internat erfuhr?

Oder war mit seinem Vater oder seiner Mutter etwas passiert, was Petach ihm auf dem Heimweg schonend beibringen wollte?

»Also?« fragte Zombeck. Aton spürte seine Unruhe. Der Direktor schien zu ahnen, daß hier etwas nicht stimmte. Und bevor sein Mißtrauen völlig erwachen konnte und sich Aton damit vielleicht doch noch eine Woche Unterricht - und damit auch eine Woche Werners Gesellschaft - einhandelte, nickte er.

»Dann geh hinunter und pack deine Sachen«, sagte Aton warf Petach einen letzten, forschenden Blick zu, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ das Büro, und nicht einmal eine Stunde später saß er auf dem Beifahrersitz von Petachs Wagen, und sie rollten durch das finstere Torgewölbe des ehemaligen Klosters und den Hügel hinab.

Dann geschah etwas Sonderbares: Aton drehte sich im Sitz des schweren Mercedes herum, soweit es der Sicherheitsgurt zuließ, und sah zum Internat zurück. Das Gebäude ruhte groß und wuchtig und irgendwie drohend auf dem Hügel, und plötzlich hatte Aton das sichere Gefühl, daß er nie wieder hierher zurückkehren würde. Er wußte nicht, woher es kam, aber es war mehr als eine Ahnung. Abermals fragte er sich, warum Petach wirklich gekommen war.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Petach in diesem Moment: »Bist du froh, nach Hause zu kommen?«

Aton drehte sich wieder im Sitz herum. Er antwortete nicht gleich, sondern sah eine ganze Weile nachdenklich auf die Straße hinaus, dann fragte er direkt: »Mein Vater hat Sie nicht geschickt, nicht wahr?«

Petach antwortete nicht darauf, aber sein Schweigen war beredt genug.

»Er weiß nicht einmal, daß Sie hier sind«, vermutete Aton.

Wieder vergingen Sekunden, in denen Petach weder antwortete noch ihn ansah, sondern so tat, als konzentrierte er sich darauf, den schweren Wagen zu lenken. »Ich bringe dich sicher nach Hause, keine Angst«, sagte er schließlich.