»Was hast du?« fragte Sascha. Atons plötzliche Nervosität war ihr nicht entgangen.
»Nichts«, antwortete Aton eine Spur zu hastig. Sascha sah ihn mißtrauisch an, dann blickte sie zu der Gestalt an der Tür hinüber - und dann tat sie etwas, was Aton erschrocken zusammenfahren ließ. Sie stand auf und ging mit schnellen Schritten auf die Gestalt zu. Diese fuhr zusammen, wirbelte herum und rannte mit wehendem Mantel davon.
Aton dachte an sein unheimliches Erlebnis vom vergangenen Abend, und plötzlich tat es ihm leid, Sascha nichts davon erzählt zu haben. Doch aus irgendeinem Grund brachte er es auch jetzt noch nicht fertig, ihr davon zu berichten. Er sah auf die Uhr und stand dann auf. »Es wird Zeit. Laß uns zurückgehen.«
Die zwei Stunden waren noch nicht ganz um. Sascha warf noch einen Blick hinaus auf die Straße, in die Richtung, in die die Gestalt in dem schwarzen Mantel verschwunden war, dann winkte sie den Wirt herbei, bezahlte die Rechnung und verließ hinter Aton das Café.
Es war ein wenig wärmer geworden. Die Sonne stand fast im Zenit, und das klare Licht und die Helligkeit machten es Aton schwer, zu glauben, daß sich zu Hause die Menschen darauf vorbereiteten, das Weihnachtsfest zu feiern.
Die Straßen hatten sich ziemlich geleert. Als sie gekommen waren, hatte es hier von Touristen aller Nationalitäten nur so gewimmelt. Mittlerweile waren die Reisegruppen, die zusammen mit ihnen in Gizeh eingetroffen waren, wieder in ihren Bussen zurückgefahren, und offensichtlich war die nächste Invasion von Menschen mit Fotoapparaten und Videokameras noch nicht eingetroffen. Jedenfalls lag die unmittelbare Umgebung wie ausgestorben da. Aton sah nur drei oder vier Einheimische. Keine schwatzenden Amerikaner, keine fotografierenden Japaner, keine Deutschen, die nach irgend etwas Ausschau hielten, was sie kaufen konnten - er und Sascha schienen die einzigen zu sein, die nicht hierhergehörten, als hätte ein Zauber die Straßen und Häuser um tausend Jahre in die Vergangenheit versetzt.
»Unsinn«, murmelte er.
Sascha sah ihn fragend an. »Wie bitte?«
»Nichts«, sagte Aton rasch.
Sascha blieb stehen. »Ich finde es nicht gut, daß du Geheimnisse vor mir hast«, sagte sie. »Wenn wir zusammen diese Sache durchstehen wollen, dann sollten wir einander vertrauen.«
»Es ist ...« begann Aton. »Der Mann vorhin ... Gestern abend im Hotel, als du nicht da warst ... jemand war an der Tür.«
Sascha erschrak. »Hast du das Zimmer verlassen?«
»Nein«, beeilte sich Aton zu versichern, »jedenfalls nicht richtig. Ich war nur ganz kurz vor der Tür und auch nur einen Schritt weit. Aber jemand war da. Der Mann vorhin erinnerte mich irgendwie an ihn.«
»Das hättest du mir sagen sollen.« Saschas Stimme klang ernst. »Wenn sie uns bis hierher gefolgt sind, dann könnte Yassir in Gefahr sein.«
Und was ist mit uns? dachte Aton. Saschas unerschütterlicher Glaube daran, daß ihm nichts passieren konnte, solange er nur in ihrer Nähe blieb, irritierte ihn immer mehr. Zumal er berechtigt zu sein schien. Sicher, es war ein paarmal knapp gewesen - aber sie waren ihren Verfolgern jedesmal entkommen, auch wenn die Situation noch so ausweglos schien.
»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, sagte er. »Vielleicht fange ich an, Gespenster zu sehen.«
»Hoffentlich nicht«, antwortete Sascha. »Und wenn, dann sag mir bitte Bescheid.« Es sollte ein Scherz sein, aber die beabsichtigte Wirkung verkehrte sich ins Gegenteil. Aton fröstelte plötzlich. Während sie weiter auf die Pyramiden zugingen, sah er sich immer wieder um. Doch von Männern in schwarzen Mänteln oder gar anderen Verfolgern war nichts zu sehen. Dafür verstärkte sich das Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie fanden Yassir bei seinem Zelt. Er redete lautstark und gestikulierend mit drei anderen Ägyptern, und der Tonfall und der Ausdruck auf den Gesichtern der Männer sagten Aton, daß es sich keineswegs um eine freundschaftliche Unterhaltung handelte. Als Yassir sie bemerkte, hielt er inne und sah sie unfreundlich an. Dann beendete er die Diskussion mit einem einzigen befehlenden Wort, worauf sich die drei anderen Männer murrend zurückzogen.
Yassir wandte sich an Aton und Sascha. »Ihr kommt früh«, sagte er in tadelndem Ton.
»Wir waren -« begann Aton, wurde aber sofort von Yassir unterbrochen, der eine unwillige Geste machte.
»Gehen wir«, sagte er. »Der Weg ist weit, und wir haben nur zwei Stunden, bis der nächste Bus kommt.«
Aton und Sascha tauschten einen verblüfften Blick. Hatte Yassir sich nicht eben erst beschwert, daß sie zu früh seien? Aber der Ägypter schien ebenso nervös zu sein wie sie. Sie folgten Yassir, aber diesmal achtete Aton ganz genau, wohin dieser seine Schritte lenkte. Nein, es war kein Zufall. Der Ägypter mied den Schatten der Sphinx und machte sogar einen kleinen Umweg, um im hellen Sonnenlicht zu bleiben. Auch Sascha entging dieses Verhalten nicht. Sie runzelte die Stirn.
Yassir ging direkt auf die Cheopspyramide zu, das größte der drei gewaltigen Bauwerke. Ihr Eingang, den sie über einige ausgetretene Stufen erreichten, war mit einem eisernen Gitter verschlossen. Aton war bereits im Inneren der Pyramide gewesen und wußte, daß es nur aus langen, niedrigen Gängen und leeren Kammern bestand. Wie viele Besucher, war auch er damals enttäuscht gewesen, daß keine Schätze zu sehen waren. Bis heute gab es immer wieder die Vermutung, daß die eigentliche Grabkammer des Pharaos noch in einem nicht entdeckten Bereich der Pyramide liege, doch hatte keine der dahingehenden Bohrungen einen Beweis dafür erbracht.
Yassir zog einen Schlüssel aus den Falten seines Kaftans hervor und öffnete das Gitter. Er wartete, bis Aton und Sascha nachgekommen waren, und sperrte das Gitter wieder zu. Dann brachte er einen Handscheinwerfer unter seinem Gewand zum Vorschein, das außer Yassirs dürrer Gestalt offensichtlich noch ein ganzes Warenlager zu enthalten schien. Während er ihn einschaltete und den gebündelten, sehr starken Lichtstrahl in den schräg abfallenden Gang vor ihnen richtete, drehte sich Aton noch einmal um und sah durch das Gitter hinaus.
Am Fuß der Pyramide stand eine Gestalt in einem schwarzen Mantel und blickte zu ihnen herauf.
Sie folgten Yassir den engen Gang hinunter. Es gab elektrisches Licht an der Decke, das aber nicht eingeschaltet war.
Trotzdem reichte auch der Schein von Yassirs Lampe aus, ihnen zu zeigen, was die Menschen, die hiergewesen waren, hinterlassen hatten. Eine zusammengeknautschte Zigarettenpackung, ein ausgebranntes Blitzlicht, ein Blatt Papier ... einmal kamen sie an einer Stelle vorbei, an der jemand etwas mit Filzstift an die Wand gemalt hatte. Der Anblick stimmte Aton traurig. Er hatte nie verstanden, warum manche Menschen so wenig Respekt vor Dingen wie diesen hatten. Gleich um welchen Glauben es sich handelte, dieses Bauwerk stellte ein phantastisches Monument menschlichen Schaffens dar. Es gehörte sich einfach nicht, so etwas zu tun - und im übrigen standen auch schwere Strafen auf einen derartigen Frevel.
Nun erreichten sie eine Abzweigung, die in einem stumpfen Winkel nach oben führte. Aber Yassir schritt weiter in die Tiefe hinab, bis sie bei einer kleinen Kammer anlangten, die vollkommen leer war. Die Wände waren geschwärzt vom Ruß der Fackeln, die hier einst gebrannt hatten. Nur hier und da konnte man noch Spuren von Reliefs erkennen. Sascha sah sich staunend um, während Yassir an die gegenüberliegende Wand trat und sie mit den Fingerspitzen abzutasten begann.
»Wofür war diese Kammer gedacht?« fragte Sascha.
»Die Ägypter haben oft falsche Grabkammern und blinde Gänge angelegt, um Grabräuber zu täuschen«, antwortete Aton. »Fast alle Pharaonengräber wurden aufgebrochen und geplündert - und das ist ja kein Wunder. Die Gräber waren überaus kostbar ausgestattet, mit Gold und Edelsteinen.«
Er hätte sich bestimmt noch weiter in Beschreibungen verloren, wenn nicht ein lautes Knacken zu vernehmen gewesen wäre. Aton und Sascha wandten sich zu Yassir um - und Aton erstarrte, als er sah, wie sich ein Stück des Reliefs, über das Yassirs Finger glitten, zu bewegen begann. Nur einen Augenblick später zitterte die ganze Wand. Staub begann von der Decke zu rieseln, und das Zittern und Beben setzte sich nun auch am Boden fort. Aton hörte einen unheimlichen, hohl knirschenden Laut, der von überallher zugleich zu kommen schien und etwas ungeheuer Machtvolles an sich hatte. Er glaubte regelrecht zu spüren, wie sich tief unter seinen Füßen eine uralte Mechanik in Bewegung setzte und tonnenschwere Steinquader von ihren Plätzen löste. Langsam, begleitet von einem Geräusch, als wäre ein steinerner Riese aus jahrtausendelangem Schlaf erwacht und versuchte sich von seinem Fundament zu lösen, glitt die gesamte Wand, vor der Yassir stand, zur Seite, bis ein gut mannsbreiter Spalt entstanden war, hinter dem Stufen zu erkennen waren, die steil in eine lichtlose Tiefe führten.