Yassir wandte sich zu ihnen und winkte, und tatsächlich ging Sascha sofort zu ihm hinüber. Aton jedoch rührte sich nicht. Er war vollkommen fassungslos. Er hatte eine verborgene Inschrift erwartet, einen anderen Sinn in den in die Wände gemeißelten Bildern, den nur Yassir kannte, den Hinweis auf einen bisher unentdeckten Gang ... aber das?! Das war absolut unmöglich! Den Wissenschaftlern wäre ein verborgener Durchgang niemals entgangen!
»Aber das ... das kann nicht sein«, stammelte er. »Diese Kammer ist immer wieder untersucht worden, und -«
Yassir unterbrach ihn ungeduldig. »Es gibt Dinge, die sich eure Wissenschaft nicht einmal träumen läßt, Aton. Ich dachte, du hättest das schon begriffen. Komm jetzt.« Noch immer staunend, setzte sich Aton in Bewegung und lief ein paar Stufen hinunter, ehe er wieder stehenblieb und darauf wartete, daß Yassir zu ihnen kam. »Schließen Sie die Tür nicht?« fragte Sascha.
»Von dieser Seite aus?«
Sascha sah ihn fragend an. »Können Sie es nicht?«
»Doch«, erwiderte Yassir trocken. »Schließen kann ich sie. Nur nicht wieder öffnen. Wenn Sie möchten ...« Er hob die freie Hand nach einer Stelle an der Wand neben sich, und Sascha schüttelte eilig den Kopf. Yassir grinste, senkte den Strahl seines Scheinwerfers in die liefe und ging voran.
Atons Herz begann immer schneller zu klopfen, während er dem Ägypter folgte. Uralte, stickige Luft drang zu ihnen herauf. Sie hörten Geräusche: ein Rascheln und Schleifen, das Rieseln von Sand und manchmal ein düsteres Knarren und Rumoren.
Sie konnten nicht erkennen, wie weit die Stufen in die Tiefe führten. Yassirs Scheinwerferstrahl reichte sehr weit, doch auch er berührte das Ende der Treppe nicht, und sie gingen auch nicht weit genug hinunter, um es sehen zu können. Yassir blieb plötzlich stehen und schwenkte die Lampe herum, so daß ihr Strahl eine hohe, von zwei steinernen Horusköpfen flankierte Öffnung aus der ewigen Dunkelheit riß. Sie betraten einen schmalen Gang, der schon nach wenigen Schritten vor einer reichverzierten steinernen Tür endete. Lautlos und ohne daß der Ägypter sonderlich viel Kraft aufwenden mußte, öffnete sie sich. Dann fiel der Strahl des Scheinwerfers in den dahinterliegenden Raum, und Aton vergaß die Tür und ihre geheimnisvolle Mechanik auf der Stelle. Die Kammer ähnelte nichts, was Aton jemals zuvor gesehen hatte. Sie war nur etwa halb so groß wie die leere Grabkammer oben, und wohin der Strahl der Lampe auch fiel, brach er sich schimmernd auf Gold, Silber und Edelsteinen.
Die Prophezeiung
Vor der gegenüberliegenden Wand erhoben sich zwei fast metergroße Falken, die aus purem Gold zu bestehen schienen und deren Augen aus schimmerndem Karneol gemacht waren.
Krüge und Schalen aus Alabaster standen neben Statuen, die Herrscher bei der Jagd darstellten oder hohe Beamte. Neben zwei kunstvoll gearbeiteten Stühlen lagen reichverzierte Waffen. Das erstaunlichste aber waren die Bilder. Es gab keinen Quadratzentimeter der Wände und selbst der Decke, der nicht davon bedeckt war. Es waren Darstellungen von Gottheiten und Herrschern, von Festen und heiligen Zeremonien, aber auch Jagd- und Schlachtszenen oder Bilder des täglichen Lebens, wie es vor mehr als viertausend Jahren hier stattgefunden hatte. Wohin er auch sah, erblickte Aton Zeugnisse des alten Ägyptens, eines Landes, das nichts, aber auch gar nichts mit dem gemein hatte, was man heute unter diesem Namen kennt. Der Anblick war so phantastisch, daß Aton für einige Momente vergaß, warum sie überhaupt hierhergekommen waren. Er stand einfach da, sah sich um und staunte, und jedesmal, wenn er glaubte, nun nichts mehr entdecken zu können, was noch großartiger war, stieß er auf ein neues Wunder.
»Was ... was ist das?« fragte Sascha. Ihre Stimme war zu einem ehrfürchtigen Flüstern gesenkt, fast als hätte sie Angst, den Zauber dieser Kammer zu zerstören, wenn sie zu laut sprach.
»Ein geheimer Raum«, antwortete Yassir. »Es gibt ihn fast in jedem Pharaonengrab. In manchen auch mehr als einen.«
»Davon habe ich nie gehört«, murmelte Aton, ohne den Blick von all den Wundern zu nehmen, die um sie herum waren.
Yassir lächelte verzeihend. »Müßt ihr denn alles wissen?«
»Wozu hat er gedient?« erkundigte sich Sascha.
Yassir seufzte. »Etwas aufzubewahren ... etwas zu verbergen ...« Er machte eine unschlüssige Handbewegung. »Ich weiß es nicht genau. Ich habe nie danach gefragt.«
»Warum nicht?«
Yassir wurde eine Spur ernster. »Ich habe gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Manche Antworten gefallen einem nicht. Und manches sollte man nicht wissen.« Er beendete den Gedanken mit einer entschiedenen Geste und wandte sich an Aton. »Wir haben nicht viel Zeit. Komm mit.« Er wartete, bis Aton neben ihn trat, dann ging er zu einer Stelle an der Wand neben dem Eingang und hob den Arm. Aton blickte aufmerksam auf das Bild, auf das Yassirs Hand deutete.
Im allerersten Moment schien es sich kaum von den anderen Reliefs zu unterscheiden. Es war eine Schlachtszene. Er sah Krieger in zweispännigen Kampfwagen, die ein offensichtlich unterlegenes feindliches Heer in einer Schlucht zusammengetrieben hatten. Erst nach einigen Sekunden begriff er überhaupt, was das Bild darstellte.
Aton fuhr mit einem überraschten Laut zusammen. »Echnaton«, murmelte er. »Das ... das ist Echnaton! Echnatons letzter Kampf! Das Bild zeigt Echnaton und seinen Mörder!«
Yassir wirkte ehrlich überrascht. »Woher weißt du das?«
Die Antwort war ganz einfach - aber zugleich auch so unglaublich, daß Aton es kaum über sich brachte, sie auszusprechen. Er wußte es, weil Eje selbst auf einem der Bilder zu erkennen war. Genauer gesagt: weil er ihn wiedererkannte. Zitternd hob er die Hand und deutete auf die Gestalt in dem knöchellangen, blau und gold gestreiften Gewand mit dem goldenen Falken auf der Brust. Er sagte nichts, aber Yassirs Augen wurden groß vor Staunen.
»Du hast recht«, sagte er fassungslos. »Das ist Eje. Aber niemand weiß das. Niemand außer mir hat dieses Bild je gesehen.«
»Er ist es«, sagte Aton leise, »und das ...« Sein ausgestreckter Finger wanderte weiter und deutete auf eine zweite Gestalt, die ein Stück unterhalb Ejes stand und schützend beide Arme vor das Gesicht erhoben hatte, so daß man ihre Züge nicht genau erkennen konnte, »... ist Echnaton.« Sein Herz klopfte immer heftiger, und er begann am ganzen Leib zu zittern, während er näher an die Wand herantrat und versuchte, das Gesicht Echnatons zu erkennen. Es gelang ihm nicht. So klar und deutlich die Züge des Mörders wiedergegeben waren, so verschwommen waren die seines Opfers.
»Ist es Petach?« fragte Sascha hinter ihm.
Im Herumdrehen sah Aton, wie sich Yassirs Züge vor Zorn verdüsterten, aber er beachtete es nicht. »Woher -?« begann er.
»So schwer ist das nicht zu erraten«, sagte Sascha. »Seit du mir die Geschichte erzählt hast, frage ich mich, was er eigentlich damit zu tun hat. Eine Weile habe ich mich sogar gefragt, ob er vielleicht der Wanderer ist.«