»Sagen Sie das nicht!« sagte Jassir aufgebracht. »Sie wissen nicht, wovon Sie reden!«
Aton machte eine beruhigende Geste, sah den Ägypter aber immer noch nicht an. »Ich weiß es nicht«, beantwortete er Saschas Frage, und das war die Wahrheit. »Aber ich glaube es nicht. Wenn er Eje wäre, hätte er es einfacher haben können, mich hierherzulocken.«
»Ich verbiete euch, so zu reden!« sagte Yassir, noch immer aufgebracht und zornig. »Ihr wißt nicht, was ihr sagt!« Dann fuhr er etwas ruhiger fort: »Ihr habt es jetzt gesehen. Dies ist der Ort, an dem Echnaton und seine Krieger starben. Und der Ort, an dem sie erwachen werden. Merkt ihn euch gut, denn es ist die einzige Hilfe, die ich euch geben kann.«
Aton sah die in Stein gemeißelten Bilder unverwandt weiter an. Neben der Darstellung der Schlacht gab es ein zweites, etwas kleineres Relief, auf dem der Weg eingezeichnet war, den Echnaton auf seiner letzten Reise genommen hatte. Aton kannte die Landkarte Ägyptens nicht auswendig, und vieles sah völlig anders aus als heute. Und doch hatte er nach einigen Sekunden das Gefühl, den Ort kennen zu müssen. Der Gedanke schien ihm immer wieder zu entschlüpfen, gerade wenn er danach greifen wollte, aber er spürte, daß er der Lösung jetzt ganz nahe war. Die Felsenschlucht lag in der Wüste, an einem Ort, der -
Nein, er wußte es einfach nicht. Er sollte es wissen. Er spürte, daß es im Grunde ganz einfach war. Aber es war, als ... ja, als verhinderte etwas, daß er das Offensichtliche sah.
Aton trat wieder einen Schritt von der Wand zurück und löste seinen Blick von dem Relief. Vielleicht entdeckte er irgendwo etwas anderes, was ihm weiterhalf, der entscheidende Anstoß, der ihm noch fehlte, um die verschlossene Tür in seinen Gedanken aufzuschließen.
»Es ist unglaublich«, sagte Sascha. Sie hatte begonnen, in der Kammer herumzulaufen und dabei immer wieder vor einer Statue, einem Bild stehenzubleiben, etwas in die Hand zu nehmen und vorsichtig wieder zurückzustellen. Ihr Erstaunen schien immer größer zu werden. »Die Vorstellung, daß ... daß all diese Schätze Tausende von Jahren unentdeckt geblieben sind ...« Sie schüttelte den Kopf und sah Yassir auf eine Art und Weise an, die den Ägypter zum Lächeln brachte.
»Ihr bildet euch ein, alle Geheimnisse dieses Landes zu kennen«, sagte er in sanftem, tadelndem Ton, der nichts Überhebliches oder gar Verletzendes hatte. »Aber das stimmt nicht. Ihr habt nicht einmal richtig angefangen, sie zu entdecken. Und ihr werdet sie auch niemals wirklich verstehen.«
Die Antwort schien Sascha zu verwirren. Einige Sekunden lang sah sie Yassir mit gerunzelter Stirn an, dann zuckte sie mit den Schultern und setzte ihre Erkundung der Schatzkammer fort. Vor einer kleinen Truhe blieb sie stehen und nahm eine nur etwa zehn Zentimeter große Figur in die Hand, die einen Mann im Lendenschurz zeigte, dessen Körper mit Hieroglyphen bedeckt war. Es gab sehr viele von diesen Figürchen hier drinnen. »Was ist das?« fragte sie.
»Ein Uschebti.« Yassir trat neben sie, nahm ihr die Figur aus der Hand und setzte sie behutsam auf die Truhe zurück. Sascha blickte ihn fragend an, und als Yassir keine Anstalten machte, das Wort zu erklären, sprang Aton ein.
»Eine Grabbeigabe«, erklärte er. »Sie haben sie den toten Pharaonen zu Hunderten mitgegeben, damit sie an ihrer Statt im Totenreich die aufgetragenen Arbeiten erledigten.« Auch er betrachtete die kleine Figur einen Moment, wandte seine Aufmerksamkeit dann aber wieder anderen Dingen zu. Noch einmal ließ er seinen Blick durch die Kammer streifen. Der Raum war vollgestopft mit Wundern und Schätzen, aber nichts davon war dazu angetan, ihm weiterzuhelfen. Im Gegenteil - vor allem die beiden überlebensgroßen Falkenstatuen beunruhigten ihn immer mehr. Sie stellten den Gott Horus dar, und vielleicht war der Grund seiner Nervosität einfach der, daß er von Petach wußte, daß Horus zu seinen Feinden gehörte. Aber auch darüber hinaus schien irgend etwas Unheimliches an den beiden gewaltigen goldenen Falken zu sein. Vielleicht waren es ihre Augen. Die Karneole - jeder einzelne war größer als Atons Daumennagel - fingen das Licht des Scheinwerfers auf und warfen es hundertfach gebrochen zurück, so daß man meinen konnte, ihre Augen wären lebendig. Das Phänomen hatte noch einen zweiten, unheimlichen Nebeneffekt: Es schien keinen Fleck in der Kammer zu geben, an dem man nicht direkt von den beiden riesigen Falken angestarrt wurde.
»Es wird Zeit«, sagte Yassir. »Hast du alles gesehen, was du sehen wolltest?«
Aton nickte, doch dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ein letztes Mal dem Relief zu. »Noch einen Moment«, bat er. Yassir war davon nicht begeistert, protestierte aber auch nicht, so daß Aton wieder an die Wand trat und sowohl die Schlachtszene als auch die daneben angebrachte Karte noch einmal und mit großer Konzentration musterte. Etwas daran war wichtig, mußte wichtig sein, denn Petach hatte ihn nicht von ungefähr hierhergeschickt. Es war - Und dann wußte er es. Die Erkenntnis traf ihn so heftig, daß er einen halben Schritt zurückwich und erschrocken die Luft einsog. Er konnte spüren, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
»Was ist los?« fragte Sascha. »Was hast du?«
Aton starrte das Wandbild mit offenem Mund an. Er war bis ins Mark erschrocken - wieso hatte er es nicht sofort gesehen? Es war so deutlich, daß es ihm nun, als ihm die Wahrheit klargeworden war, regelrecht ins Auge sprang.
»Die Schlucht«, murmelte er. »Die Felsenschlucht, in der Echnaton gestorben ist.«
»Was ist damit?« fragte Sascha. Sie trat neben ihn und sah das Bild ebenso aufmerksam an wie er, schien aber nichts Besonderes daran zu entdecken.
»Die Baustelle«, murmelte Aton. »Vaters Baustelle. Der Staudamm. Die ... die Schlucht liegt unmittelbar vor dem Damm.«
»Und?« fragte Sascha, der die wahre Bedeutung seiner Worte noch gar nicht aufgegangen zu sein schien.
»Begreifst du denn nicht?« flüsterte Aton. »Die toten Krieger! Sie liegen direkt vor dem Damm!«
Auch Sascha wurde blaß. »Du meinst, ganz in der Nähe deiner Eltern?«
»Meiner Eltern?!« Aton schrie fast. »Dort draußen sind Hunderte von Arbeitern. Hunderte von Menschen, die keine Ahnung haben, was in zwei Tagen geschehen wird.«
Sascha schien immer noch nicht zu wissen, was er meinte. »Ich verstehe nicht genau, worauf du hinauswillst«, sagte sie.
»Aber begreifst du denn nicht?« rief Aton aufgebracht. »Sie werden erwachen, wie Echnaton es prophezeit hat. Und sie werden über all diese ahnungslosen Menschen herfallen und sie umbringen. Das Blut unzähliger Unschuldiger wird fließen, und wenn das geschieht -«
»- dann wird Osiris' Macht ins Unermeßliche steigen«, beendete Yassir den Satz, als Aton nicht weitersprach.
»Oh«, sagte Sascha. Nur dieses eine Wort, aber es drückte ihren Schrecken vielleicht mehr aus als alles andere, was sie hätte sagen können.
»Wir müssen sie warnen«, sagte Aton. Plötzlich war es sehr aufgeregt. »Schnell. Wir müssen so schnell zur Baustelle, wie es geht.«
»Niemand wird euch glauben«, sagte Yassir traurig.
»Wir müssen es versuchen«, widersprach Aton. »Irgendwie müssen wir sie überzeugen. Ich weiß noch nicht, wie, aber es muß einfach gelingen. Ich -«
Draußen auf der Treppe näherten sich stampfende Schritte. Aton brach erschrocken mitten im Satz ab, und auch Yassir und Sascha drehten sich mit einem Ruck zur Tür - und schrien gleichzeitig erschrocken auf.
Atons Herz machte einen Satz und schien als harter Knoten in seinem Hals weiter zu hämmern, als er sich zum Eingang umwandte. Die Tür war nicht mehr leer. Unter der Öffnung war eine Gestalt in einem schwarzen Mantel erschienen, und Yassir hatte sofort seinen Scheinwerfer auf sie gerichtet, so daß Aton nun zum zweiten Mal das Gesicht seines Verfolgers erkennen konnte.
Beinahe wünschte er sich, es nicht gesehen zu haben. Es war eine der Gestalten, die ihn gestern abend gejagt hatten. Das gleiche schwarzgekleidete Geschöpf, das Sascha und ihn auch in Gizeh verfolgt hatte. Und nun bewahrheiteten sich Atons ungute Ahnungen auf schreckliche Weise.