Es war kein Mensch. Das Wesen ging aufrecht und hatte zwei Arme und zwei Beine und einen Kopf, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit einem Menschen auch schon auf. Die Hände, die aus den weiten Ärmeln seines Mantels hervorragten, waren keine Hände, sondern plumpe Pfoten, die eher zum Laufen geschaffen schienen, nicht zum Greifen. Unter dem Mantel lugte ein dünner, peitschender Schwanz hervor, und der Kopf war nicht der eines Menschen, sondern die schreckliche Karikatur eines Hundeschädels mit spitzen Ohren, kleinen boshaften roten Augen und einer langgezogenen Schnauze, in der nadelspitze Zähne blitzten. Die Kreatur ähnelte viel mehr einem aufrecht gehenden, mannsgroßen Hund als einem Menschen.
Knurrend kam das Geschöpf näher. Aton hörte ein schreckliches Hecheln und Schnüffeln, wie von einem Bluthund, der die Witterung seiner Beute aufnimmt, und tatsächlich schien sich das Geschöpf mehr nach seinem Geruchs- als seinem Gesichtssinn zu orientieren. Es beugte sich vor, so daß die Vorderpfoten fast den Boden berührten, und kam mit kleinen, hoppelnden Schritten näher, immer wieder nach rechts und links schwenkend, und es dauerte nur einen Augenblick, bis Aton begriff, daß das Wesen tatsächlich seiner Spur folgte, denn es bewegte sich genau dort entlang, wo auch er gegangen war. Und es bewegte sich sehr zielsicher auf ihn zu.
»Aton!« schrie Sascha plötzlich. »Lauf weg! Ich halte ihn auf!«
Aton machte eine Bewegung, Sascha zurückzuhalten, aber es war zu spät. Mit weit ausgebreiteten Armen warf sich die junge Polizistin auf die Kreatur, um sie zu packen und mit einem Judogriff zu Boden zu werfen, wie sie es schon einmal getan hatte.
Es gelang ihr nicht. Aton sah, wie Sascha den Arm des Geschöpfes ergriff, sich in der gleichen Bewegung herumdrehte und den Rücken krümmte, um das Wesen über sich hinweg und zu Boden zu schleudern, und jeden anderen Gegner hätte dieser Wurf wohl auch aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Hundewesen nicht. Obwohl die Kreatur schlank war, mußte sie über unvorstellbare Körperkräfte verfügen. Sascha keuchte vor Schmerz und Überraschung, als sie zurückgezerrt und nun ihrerseits zu Boden geworfen wurde, und hätte das Wesen die Situation genutzt, um sie anzugreifen, so wäre es sicher um sie geschehen gewesen. Aber es versetzte ihr nur einen Tritt, der sie hilflos davonkollern und gegen die Wand prallen ließ, und bewegte sich dann weiter auf Aton zu. Geifer tropfte aus dem Maul des Ungeheuers. Seine Augen loderten vor Mordlust, und der Schwanz peitschte aufgeregt. Aton wich Schritt für Schritt vor dem Angreifer zurück, aber ihm blieben nur wenige Augenblicke, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Das Geschöpf kam immer näher. Ein tiefes, unheimliches Knurren drang aus seiner Brust, und die schrecklichen Fänge öffneten sich. Noch einen Schritt, und -
Das Geschöpf blieb stehen. Soweit dies überhaupt möglich war, erschien ein fast verblüffter Ausdruck auf seinem Hundegesicht, als es den Kopf senkte und an sich herabsah. Atons Blick folgte der Bewegung.
Was das Hundewesen aufgehalten hatte, war eine der Uschebti-Figuren. Es hatte sie umgeworfen, wahrscheinlich ohne es selbst überhaupt zu bemerken, und die kleine Tonstatue hatte sich so unglücklich zwischen seinen Zehen verfangen, daß es weh tun mußte. Mit einem unwilligen Knurren versuchte die Kreatur, die Statue abzuschütteln, aber es ging nicht.
Das Uschebti hielt sich nämlich mit beiden Händen in seinem struppigen Fell fest.
Trotz der Lebensgefahr, in der Aton schwebte, war er fassungslos vor Staunen. Er konnte es ganz deutlich sehen: Die winzige Figur krallte sich mit aller Kraft in das Fell des Hundewesens, und genau in diesem Moment erwachte ein zweites Uschebti ganz in der Nähe zum Leben, lief mit kleinen, trippelnden Schritten auf eines der Beine des Hundewesens zu und begann unverzüglich, daran in die Höhe zu klettern. In seiner winzigen Hand blitzte ein noch winzigeres Messer, mit dem es die Haut des Geschöpfes zwar kaum ritzen konnte, trotzdem aber emsig darauf einstach. Und wenn es schon nicht weh tat, so schien es dem Hundekrieger zumindest unangenehm zu sein, denn er begann das Bein zu schütteln und versuchte, den nicht einmal handgroßen Angreifer abzustreifen.
Ein drittes Uschebti erschien, schwang eine Lanze, die die Dimension eines Zahnstochers hatte, und rammte sie mit aller Kraft in die Zehe des Hundes. Die Kreatur heulte vor Schmerz und Zorn auf und beugte sich vor, um das winzige Geschöpf zu packen, aber das Uschebti brachte sich geschickt vor ihren Krallen in Sicherheit und stach ihm die Lanze nun auch noch in die Pfote.
Und das war erst der Anfang. Plötzlich war der Raum voller huschender, raschelnder Bewegung, als überall winzige Gestalten zu hektischem Leben erwachten. Ein von Spielzeugpferden gezogener Streitwagen galoppierte auf den Hundekrieger los. Soldaten schwangen Lanzen, die kaum größer als Bleistifte waren, ein ganzer Hagel kleiner Wurfgeschosse senkte sich auf das Hundegeschöpf, und immer mehr und mehr der winzigen Angreifer begannen, an seinen Beinen und in den Falten seines Mantels hinaufzuklettern. Das Knurren des Hundes klang jetzt eher furchtsam als zornig, und seine Bewegungen wurden immer fahriger. Mit wild schlagenden Armen taumelte er durch den Raum, stieß gegen ein paar Statuen, prallte gegen die Wände und andere Hindernisse. Er bot einen geradezu bizarren Anblick. Dutzende von winzigen Figürchen hingen an seinen Kleidern und seinem Fell, schlugen, stachen, kratzten, bissen und traten auf ihn ein, und auch wenn jeder einzelne der kleinen Quälgeister ihm kaum Schaden zufügen konnte, so stellten sie in ihrer großen Anzahl wohl doch eine enorme Gefahr dar.
Schließlich gab der Angreifer auf und wandte sich zur Flucht. Brüllend und um sich schlagend, wankte er zum Ausgang, prallte noch einmal gegen die Wand und verschwand schließlich auf der Treppe. Aton starrte ihm entsetzt nach, dann fuhr er herum und war mit zwei schnellen Schritten bei Sascha, die noch immer benommen am Boden saß. »Alles in Ordnung?« fragte er besorgt.
Sascha hob mühsam den Kopf. Sie blickte ihn an, aber für eine Sekunde schien sie ihn gar nicht zu sehen. »Ja«, antwortete sie. »Es ... geht schon wieder.« Ihre Stimme klang flach, und in ihrem Blick war eine sonderbare Leere, die Aton frösteln ließ.
»Was war los?« fragte er in bewußt lockerem Ton, um seine Nervosität zu überspielen. »Ich dachte, du bist ein As im Judo.«
Sascha lächelte nicht. Ihr Gesicht blieb so leer und maskenhaft starr, wie es war, und der Ausdruck begann Aton allmählich wirkliche Angst einzuflößen. »Zu stark ...« flüsterte sie. »Ihr Einfluß ... ist hier zu stark. Ich kann ... meine Kräfte nicht konzentrieren. Ich ... muß hier raus.«
Das hielt Aton für eine ausgezeichnete Idee. Auch er begann sich immer unwohler hier drinnen zu fühlen, obwohl sie gerade einen eindeutigen Beweis dafür erhalten hatten, daß das, was hier drinnen war, auf ihrer Seite stand. Aber trotzdem machte es ihm angst - weil er keine Ahnung hatte, was es war. Er half Sascha aufzustehen, und sie war so schwach, daß er sie auf dem Weg zum Ausgang stützen mußte.
Yassir, der vorausgeeilt war, erwartete sie draußen auf der Treppe. Mit einer warnenden Geste bedeutete er ihnen, anzuhalten, während er konzentriert nach oben starrte, wohin er auch den Strahl seines Scheinwerfers gerichtet hatte. Von dem Hundekrieger war nichts mehr zu sehen, nur auf den Stufen waren teilweise zerbrochene Uschebti-Figuren zurückgeblieben. Yassir zögerte, weiterzugehen. Und Aton konnte dieses Zögern sehr gut verstehen. Ohne daß es einer Erklärung bedurft hätte, wußte er, daß ihre winzigen Verbündeten ihnen hier draußen nicht helfen konnten.
Vorsichtig ließ er Saschas Arm los, überzeugte sich davon, daß sie aus eigener Kraft stehen konnte, und ging dann an Yassir vorbei zwei Stufen die Treppe hinauf, um sich nach einer der kleinen Statuen zu bücken. Es war, wie er erwartet hatte: Der Zauber war erloschen, die Tonfigur war jetzt nichts mehr als eben eine Tonfigur.