»Das Licht!« rief er erschrocken. »Yassir! Die Lampe aus!«
Aber es war zu spät. Yassir hörte nicht nur nicht auf seine Warnung, er reagierte auch völlig falsch. Statt das Licht zu löschen und wie Aton darauf zu hoffen, daß die Dunkelheit sie verbarg, hob er im Gegenteil seine Lampe und richtete den kräftigen Strahl auf das Ufer, von wo die Geräusche erklangen.
Etwas Dümmeres hätte er in diesem Moment vermutlich kaum tun können.
Der grelle Lichtstrahl riß die Umrisse von mindestens sieben oder acht hochgewachsenen, schlanken Gestalten mit Hundeköpfen aus der Dunkelheit, die gerade in diesem Moment hintereinander aus dem Eingang quollen. Zwei oder drei der Gestalten heulten geblendet auf und rissen die Pfoten vor die Augen, aber die anderen stürmten unverzüglich los und näherten sich mit Riesensätzen dem Ufer. Die meisten blieben zwar stehen, als sie das Wasser erreichten, doch zwei besonders Vorwitzige warfen sich in die Fluten und begannen mit kraftvollen Bewegungen auf sie zuzukraulen.
Sascha ließ einen wenig damenhaften Fluch hören und stand so hastig auf, daß das Boot nun doch zu schwanken begann und sich ein neuer Schwall eiskaltes Wasser über Atons Füße ergoß. Breitbeinig nahm sie im Heck des Bootes Aufstellung, ergriff das Paddel mit beiden Händen und erwartete die Angreifer. Aber diese erreichten das Boot nicht. Kurz bevor sie heran waren, machte erst der eine, dann auch der zweite kehrt und begann mit hastigen Bewegungen wieder zum Ufer zurückzukraulen.
»Was ist denn jetzt -?« begann Yassir verblüfft, schwenkte den Scheinwerferstrahl herum und brach mitten im Satz ab, als er die dunkelgrün geschuppten Körper sah, die pfeilschnell durch das Wasser schossen.
Die beiden Hundekrieger schwammen, was das Zeug hielt, und erreichten das Ufer mit knapper Not. Die übrigen wichen vorsichtshalber ein gutes Stück vom Wasser zurück.
Trotzdem war die Gefahr keineswegs vorüber. Die Hundekrieger rotteten sich zu einer dichten Meute zusammen und begannen das Boot am Ufer zu verfolgen. Yassir hielt den Lichtstrahl noch eine Weile auf die Gruppe gerichtet, dann schwenkte er die Lampe wieder nach vorne.
»Bravo!« sagte Sascha säuerlich, während sie vorsichtig wieder zu ihrem Platz zurückbalancierte und sich setzte. »Das war eine echte Meisterleistung, Yassir. Warum haben Sie nicht gleich gewunken und laut hallo gerufen?«
»Sie hätten uns sowieso entdeckt«, verteidigte sich Yassir. »Sie sind Geschöpfe der Nacht. Die Dunkelheit ist ihr Verbündeter.«
Womit er vermutlich sogar recht hat, dachte Aton. Und Sascha mußte das im Grunde auch wissen. Aber sie schien wohl äußerst gereizt zu sein, denn sie fuhr in herausforderndem Ton fort: »Das nächste Mal denken Sie vielleicht, ehe Sie handeln.«
Yassir machte ein schuldbewußtes Gesicht, aber er war klug genug, nicht zu antworten, sondern drehte sich nach einer Weile wieder nach hinten und richtete die Lampe auf das Ufer.
Was der weiße Lichtstrahl ihnen zeigte, war alles andere als beruhigend. Die Hundekreaturen waren keineswegs zurückgefallen, sondern hatten im Gegenteil ein Stück aufgeholt. Und sie machten nicht den Eindruck, als bereite es ihnen große Mühe, mit dem Boot Schritt zu halten.
Yassir runzelte besorgt die Stirn. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Wir sollten schneller rudern.«
Sascha durchbohrte ihn regelrecht mit Blicken, aber die scharfe Antwort, mit der Aton rechnete, blieb aus. Statt dessen sah sie einige Sekunden lang stirnrunzelnd auf das Wasser im Boot hinab, das ihnen trotz aller Vorsicht nun schon bis an die Knöchel reichte.
»Lieber nicht«, sagte sie. »Es wird schon gehen. Solange wir uns nicht zu dicht ans Ufer wagen, sind wir wahrscheinlich in Sicherheit.«
Yassir leuchtete wieder zu den Hunden zurück. Sie rannten noch immer im gleichen Abstand hinter dem Boot her - manche so weit nach vorne gebeugt, daß ihre Pfoten fast den Boden berührten, andere hoppelten und hüpften mit grotesken Sprüngen einher. Aber eines war ihnen allen gemein: sie bewegten sich schnell.
Aton mußte seinen Blick gewaltsam von der bizarren Prozession losreißen, und als er in Saschas und Yassirs Gesichter blickte, erkannte er darauf die gleiche Mischung aus Faszination und Grauen, die auch er verspürte. Die unheimlichen Hundegesichter waren echt, keine Masken.
Außerdem war er einem solchen Geschöpf schon einmal begegnet, vor einer Woche, in jenem nächtlichen Wald auf halber Strecke zwischen Crailsfelden und seinem Zuhause.
Sie fuhren eine ganze Weile schweigend dahin. Das Rudern mit den schweren, fast versteinerten Paddeln war sehr anstrengend, und sie begannen, sich reihum abzuwechseln, so daß immer zwei von ihnen ruderten, während der dritte mit den Händen das Wasser aus dem Boot schöpfte; eine wahre Sisyphusarbeit, die aber immerhin bewirkte, daß das Schiff nicht gänzlich vollief und irgendwann unterging.
»Die Lampe«, sagte Aton plötzlich. »Wie lange halten die Batterien eigentlich?«
Yassir machte ein betrübtes Gesicht. »Nicht sehr lange, fürchte ich«, sagte er.
»Und was heißt das genau?« erkundigte sich Sascha.
»Um ehrlich zu sein«, gestand der Ägypter in zerknirschtem Ton und ohne Sascha anzusehen, »wundere ich mich schon die ganze Zeit, daß sie noch brennt. Ich habe nicht mit einem so langen Ausflug gerechnet.«
Sascha sagte nichts dazu. Aber ihr Blick machte deutlich, was sie von Yassirs Qualitäten als Fremdenführer hielt.
Die Strömung nahm ganz allmählich ab, und im gleichen Maße wurde der Fluß breiter, und die Höhlendecke begann sich zu senken. Und noch etwas geschah, was Aton wirklich Sorgen zu bereiten begann: Im Wasser waren immer weniger Krokodile. Zwar gewahrte er dann und wann noch einen geschuppten, schlanken Leib in den Fluten, aber ihre Zahl nahm ab. Bald würden vielleicht gar keine mehr da sein - und dann gab es nichts mehr, was die Hundekrieger daran hinderte, einfach hinter ihnen herzuschwimmen und sie aus dem Boot zu zerren.
Auch das Ufer war jetzt nicht mehr leer. Sie kamen an großen Haufen behauener Steine vorbei, einmal auch an einem zweiten, gottlob jedoch vollkommen zerstörten Boot, und immer öfter gewahrte Aton in den Wänden beiderseits des Flusses hohe, in den Fels hineingemeißelte Nischen, in denen Götterstatuen und Tierbildnisse standen. Einmal passierten sie auch eine Öffnung, hinter der ausgetretene Treppenstufen sichtbar waren, aber sie waren bereits vorbei, ehe Aton die anderen darauf aufmerksam machen konnte, und außerdem hätten ihnen ihre Verfolger kaum Zeit gelassen, hinzukommen.
Sie mußten immer kräftiger rudern, um ihr Tempo zu halten, denn die Strömung nahm weiter ab, was natürlich enorm an ihren Kräften zehne. Aton hatte das Gefühl, daß das Paddel mit jedem Mal schwerer wurde, wenn er es aus dem Wasser hob und wieder eintauchte, und auch Yassirs Bewegungen waren lange nicht mehr so schwungvoll wie am Anfang. Nur Sascha zeigte keine sichtbaren Spuren von Erschöpfung, was Aton mit Überraschung und Neid registrierte.
Dann endlich, als Aton schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, überhaupt noch einmal das Ende dieses Flusses zu erreichen, erweiterte sich die Höhle, so daß vor ihnen plötzlich ein kreisrunder, unterirdischer See von sicherlich einem halben Kilometer Durchmesser lag. An seinem gegenüberliegenden Ufer konnten sie eine gewaltige, direkt aus dem Fels gemeißelte Tempelfassade erkennen.
»Phantastisch!« flüsterte Sascha. »Das ... das ist unglaublich!«
Sie alle drei empfanden das gleiche fassungslose Staunen. Sie hatten aufgehört zu rudern, aber der Schwung ihrer eigenen Bewegung trieb das Boot noch ein gutes Stück weit auf den See hinaus. Und obwohl die Höhle keinen zweiten Ausgang zu haben schien, war die Strömung auch hier noch deutlich zu spüren. Der Abfluß mußte unter der Wasseroberfläche liegen.
Aton hatte in diesem Land schon größere Bauwerke gesehen und prachtvollere - die Tempel von Abu Simbel zum Beispiel, deren Fassaden ebenfalls direkt aus dem Fels herausgemeißelt worden waren, mußten doppelt so groß sein wie dieser hier -, und trotzdem verspürte er ein Erstaunen und eine Ehrfurcht wie kaum jemals zuvor. Vielleicht war es die Tatsache, daß Sascha, Yassir und er möglicherweise seit Tausenden von Jahren die ersten Menschen waren, die diese Anlage sahen. Er wußte, daß die Entdeckung dieses unterirdischen Tempels die gesamte archäologische Fachwelt in Aufruhr versetzen würde, aber er sparte es sich, diesen Gedanken auszusprechen, weil er auch wußte, daß dieser Fluß niemals entdeckt werden würde, denn er wurde von denselben uralten Mächten beschützt, die auch das Geheimnis der Tür in der Cheopspyramide hüteten.