Allerdings mochte ihre Rettung nur von kurzer Dauer sein, denn noch bevor Aton sich herumdrehte, hörte er schon wieder das Hecheln und die tappenden Schritte ihrer Verfolger.
»Was jetzt?« fragte er verzweifelt.
Seine Gedanken überschlugen sich. Ihre Lage war aussichtslos. Bei hellem Tageslicht und einem anderen Boden als dem Trümmerfeld, das unter ihnen gähnte, hätte er den Sprung vielleicht sogar gewagt, auch wenn er mit Sicherheit mit einem gebrochenen Bein oder Schlimmerem enden mußte. So aber war es glatter Selbstmord. Aber sie konnten auch nicht zurück, denn genau in diesem Moment tauchte der Schatten des ersten Verfolgers am Fuße der Treppe auf.
»Bleib hier!« schrie Sascha. »Ganz egal, was passiert, rühr dich nicht von der Stelle!« Gleichzeitig fuhr sie herum und rannte dem Hundekrieger entgegen.
Ungefähr auf halber Höhe der Treppe stießen sie zusammen. Für einen Moment schienen die beiden ungleichen Gegner zu einem einzigen Schatten zu verschmelzen, dann erscholl ein schrilles Jaulen, und der Hundekrieger segelte plötzlich in hohem Bogen durch die Luft und prallte gegen seinen Kameraden, der mit hüpfenden Sprüngen die Treppe heraufkam. Während die beiden sich überschlagend und übereinanderkugelnd in die Tiefe stürzten, fuhr Sascha herum und rannte auf Aton zu. Sie machte keine Anstalten, stehenzubleiben oder auch nur langsamer zu laufen. Ganz im Gegenteil - plötzlich breitete sie die Arme aus und stieß sich mit aller Kraft ab!
Aton stieß einen gellenden Schrei aus und griff haltsuchend um sich, aber es war zu spät. Saschas Anprall riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn über den Rand der Treppe hinaus. Himmel und Erde begannen sich vor seinen Augen zu überschlagen, und er fühlte, wie er wie ein Stein zu fallen begann. Aber plötzlich erfüllte ein mächtiges, dunkles Rauschen die Luft, ein weißer Wirbel hüllte ihn ein, und dann griff etwas ungemein Sanftes und doch sehr Starkes nach Aton und bremste seinen Sturz.
Trotzdem prallte er so heftig auf, daß bunte Sterne vor seinen Augen tanzten. Stöhnend richtete er sich auf und sah sich nach Sascha um. Sie hockte neben ihm auf dem Boden, unverletzt, wie es schien, aber benommen. Als er sie ansprach, dauerte es eine Sekunde, ehe sie überhaupt reagierte.
»Bist du verletzt?« fragte er.
»Nein«, antwortete Sascha. »Und du?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Aton vorsichtig. Es gab zwar keine Stelle an seinem Körper, die nicht weh tat, aber er schien doch ohne Verletzungen davongekommen zu sein. Und erst in diesem Moment begriff er überhaupt, was geschehen war. Das hieß - eigentlich begriff er es natürlich nicht. »Was ist passiert?« fragte er. In ungläubigem, fast entsetztem Ton fügte er hinzu: »Was hast du getan?«
»Etwas ziemlich Verrücktes, schätze ich«, antwortete Sascha zerknirscht. Sie lächelte unsicher. »Aber wie heißt es so schön: Ungewöhnliche Situationen verlangen ungewöhnliche Maßnahmen.«
»Du weißt genau, was ich meine«, antwortete Aton ernst. »Wie hast du das gemacht? Wir sind nicht-«
»- gesprungen«, unterbrach ihn Sascha in plötzlich scharfem Ton. »Es war riskant, aber es hat funktioniert, oder?«
»Aber das ist unmöglich«, protestierte Aton.
»Wir haben Glück gehabt, das ist alles«, behauptete Sascha. Sie erhob sich und machte eine auffordernde Geste. Aton folgte ihr, aber er zögerte noch eine Sekunde, hob den Kopf und sah zu der Mauerkrone hinauf, von der sie herabgesprungen waren. Gegen den Sternenhimmel zeichneten sich die Schatten der beiden Hundekrieger deutlich ab. Sie hatten sie entdeckt, wagten es aber offensichtlich nicht, auf demselben Wege hier herunterzukommen wie sie - was Aton nur zu gut verstehen konnte.
»Worauf wartest du?« fragte Sascha ungeduldig. Sie rannte los, so daß Aton ihr folgen mußte, ob er wollte oder nicht.
Sie erreichten das andere Ende der Tempelruine, und vor ihnen lag nun eine weite, von niedrigem Gebüsch und Gras bedeckte Ebene: das Gräberfeld, von dem Yassir gesprochen hatte. Von dem Ägypter selbst war keine Spur zu entdecken.
Nach einem letzten raschen Blick in die Runde traten sie aus dem Schatten der Tempelruine heraus und begannen das Gräberfeld zu überqueren. Es war weit größer, als Aton im ersten Moment geglaubt hatte. Unbehelligt überquerten sie die Hälfte des Feldes und sahen schließlich die Straße, von der Yassir gesprochen hatte. Und damit war ihre Glückssträhne vorläufig zu Ende.
Im ersten Moment dachte Aton, es wäre Yassir, als er den Schatten sah, der plötzlich am Straßenrand auftauchte und sich ihnen näherte. Doch dann erschien eine zweite Gestalt hinter der ersten und einen Augenblick später eine dritte. Sascha und er blieben abrupt stehen und fuhren erschrocken herum. Aber auch der Anblick hinter ihnen war nicht viel erfreulicher. Von dem Schatten der Tempelruine hoben sich die dunklen Umrisse von drei, vier weiteren Hundekriegern ab, und auch aus den anderen Richtungen näherten sich die Verfolger.
»O nein!« stöhnte Aton. »Jetzt haben sie uns.«
»Gibst du immer so schnell auf?« fragte Sascha.
Schnell?! Aton hätte gelacht, hätte er die Kraft dazu gehabt. Er war vor diesen Geschöpfen fast um die halbe Welt geflohen und hatte Dinge getan, von denen er vor einer Woche noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte - und Sascha nannte es schnell? Aber Sascha kam seiner Antwort zuvor, indem sie sagte: »Es ist nie vorbei, ehe es wirklich vorbei ist, weißt du? Bleib dicht bei mir. Vielleicht kann ich sie irgendwie ablenken.«
Aton fragte sich, woher sie diesen Optimismus nahm. Ihm selbst war buchstäblich zum Heulen zumute. Sie waren umzingelt. Die Hundekrieger näherten sich aus allen Richtungen, und im Umkreis von Kilometern gab es nichts, wohin er laufen konnte. Er war zu Tode erschöpft. Die Fahrt auf dem Fluß und die Verfolgungsjagd durch die Ruine forderten ihren Tribut.
Die Krieger mit den Hundeköpfen bewegten sich nicht nur auf sie zu, sondern zugleich auch auseinander, so daß sie einen Kreis um Sascha und Aton bildeten, der sich langsam, aber unbarmherzig zusammenzog. Sascha breitete die Arme aus und stellte sich schützend vor ihn; eine Geste von nur noch symbolischer Bedeutung. Der Ring schloß sich langsam weiter. Die Hundekrieger hatten es jetzt nicht mehr eilig, und warum auch? Es war vorbei. Wenn sie nicht sofort und alle zugleich über sie herfielen, dann wahrscheinlich nur noch, weil sie ihren Triumph genießen wollten.
Plötzlich blieben die Krieger stehen. Etwas bewegte sich. Zwischen ihnen. Vor ihnen. Hinter und neben ihnen - mit einem Male war überall Bewegung, als wäre der ganze Erdboden in Aufruhr geraten. Es war nicht wie ein Erdbeben. Der Boden schwankte nicht, sondern wogte und zitterte wie die Oberfläche eines dunklen Sees, unter der sich Millionen winziger Fische bewegten. Und das unheimlichste vielleicht überhaupt war: Das Zittern beschränkte sich nur auf den Bereich, in dem die Hundekrieger standen. Der Kreis, in dessen Zentrum sich Aton und Sascha aufhielten, blieb vollkommen ruhig. Und dann tauchte etwas aus diesem Wogen und Zittern empor.
Zwischen den Füßen des vordersten Hundekriegers schien eine Art übergroßer Maulwurfshügel zu entstehen. Winzige Erdklümpchen und Steine spritzten hoch, und etwas Dunkles, Kleines begann sich mit ruckartigen Bewegungen und sehr schnell an die Erdoberfläche emporzuarbeiten. Und noch bevor Aton auch nur erkennen konnte, was es war, das da so plötzlich aus dem Boden auftauchte, wiederholt sich der Vorgang überall; nahezu gleichzeitig brach an Dutzenden Stellen der Erdboden auf und spie eine Anzahl kleiner, dunkler Körper aus, die Aton im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte. Und als er sie erkannte, brauchte er ein paar Sekunden, um es wirklich zu akzeptieren.
Es waren Katzen. Aton fühlte sich mit einem Mal an sein unheimliches Erlebnis im Museum erinnert, mit dem alles begonnen hatte. Die Geschöpfe, die plötzlich überall zwischen den Hundekriegern aus dem Boden quollen, waren Katzen, aber sie waren es auch nicht. Sie waren es einmal gewesen, aber das war drei-, vielleicht sogar viertausend Jahre her. Was da vor seinen und Saschas ungläubig aufgerissenen Augen aus dem Boden kroch, das waren Mumien. Die Mumien der Tiere, die hier, auf dem berühmten Katzenfriedhof von Bubastis, im Schatten des Tempels der Bastet, beigesetzt worden waren. Sie bewegten sich unsicher, taumelnd und wie benommen, als hätten sie Mühe, nach ihrem jahrtausendelangen Schlaf zu erwachen.