Es war nicht so, daß er die Stimme des Falkengottes in seinen Gedanken hörte, aber er spürte doch, daß Horus den Handel akzeptierte. Sascha war nicht wichtig für ihn. Nicht einmal wichtig genug, um sie zu vernichten, wenn es keinen Grund dafür gab. Horus starrte ihn an, fünf Sekunden, zehn, schließlich fast eine Minute lang, und dann streckte er abermals die Hand aus und hielt sie fordernd in Atons Richtung.
Aton zögerte noch einmal, für eine allerletzte, kostbare Sekunde, und Horus gewährte ihm diese letzte Gnade, noch ein einziges Mal zu bestimmen, was er tat, dann gab er sich einen Ruck, trat mit einem raschen Schritt auf den Falkengott zu - und wurde so plötzlich und mit so überraschender Kraft zurückgerissen, daß er das Gleichgewicht verlor und rücklings zu Boden stürzte. Der Aufprall war so hart, daß er nur verschwommen sehen konnte. Er erblickte die blondhaarige, schlanke Gestalt Saschas über sich, denn niemand anderer als sie war es gewesen, die ihn im letzten Moment zurückgerissen hatte, aber er konnte sie nicht klar erkennen. Ihre Umrisse waren auf sonderbare Weise verschwommen, und für einen Moment glaubte er, etwas wie ein sanftes Leuchten zu erkennen, das ihre Gestalt umgab. Mit weit ausgebreiteten, erhobenen Armen stand sie zwischen ihm und Horus, und Aton konnte das Aufflammen mörderischer Wut in den Augen des Falkengottes erkennen.
»Rühr ihn nicht an!« sagte Sascha. »Du hast keine Macht über ihn. Du darfst das nicht tun! Ich werde es verhindern.«
Aton spürte so etwas wie Ärger auf Sascha in sich. Verstand sie denn nicht, daß ihr Angriff nicht nur aussichtslos war, sondern sein Opfer im nachhinein sinnlos machte? Horus hatte sein Opfer akzeptiert, und niemand brach einen Handel mit den Göttern. Er würde sie vernichten, und Aton hatte kein zweites Leben, das er noch einmal für sie eintauschen konnte.
Erstaunlicherweise jedoch griff der Falkengott Sascha nicht sofort an. Er stand einfach da und musterte sie, und in dem Moment, in dem er den Arm hob, um sie mit der Beiläufigkeit und Gedankenlosigkeit, mit der ein Mensch ein lästiges Insekt zerquetscht, aus dem Weg zu schleudern, erscholl hinter ihm ein so schrilles Jaulen, daß Aton und Sascha zusammenzuckten und Horus überrascht herumfuhr.
Einer der Hundekrieger war unter einer lebenden, braungrauen Flut verschwunden, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Und praktisch in derselben Sekunde wurden auch die anderen von buchstäblich Hunderten kleiner Angreifer attackiert und augenblicklich zu Boden gerissen. Die Katzen waren zurück. Und sie fielen mit solcher Wut und Schnelligkeit über die Hundekrieger her, daß die dämonischen Geschöpfe buchstäblich in Stücke gerissen wurden, ehe sie auch nur wirklich begriffen, was geschah.
Auch Horus' Reaktion kam zu spät. Zwar konnten Aton und Sascha spüren, wie er abermals jene düsteren Kräfte zu entfesseln begann, die den Tod in die Reihen der Katzen getragen hatten, aber ebenso deutlich spürten sie, daß mit einem Male noch etwas anderes da war, eine zweite, unsichtbare Kraft, die von vollkommen anderer Natur als jene des Horus war, aber ebenso stark, wenn nicht auf ihre Weise sogar mächtiger. Der tödliche Wirbelsturm, der unter die Katzen fuhr, erlosch fast im Augenblick wieder. Trotzdem zogen sich die Tiere nach einigen Augenblicken zurück, denn ihre Gegner waren besiegt. Die Hundekrieger lagen am Boden und regten sich nicht mehr.
Horus wandte sich wieder zu ihnen um, und Aton spürte, wie sich seine furchtbare Kraft abermals sammelte, um sich auf ihn oder vielleicht auf Sascha zu entladen. Die junge Polizistin breitete schützend die Arme aus und wich einen Schritt zurück, blieb dabei jedoch genau zwischen Horus und Aton. Obwohl Aton wußte, wie wenig sie gegen den Falkengott auszurichten imstande war, empfand er für einen Moment eine tiefe Dankbarkeit, denn letzten Endes war er ein wildfremder Mensch für Sascha, und anders als er ihr war umgekehrt sie ihm absolut nichts schuldig. Und trotzdem zögerte sie keinen Sekundenbruchteil, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um das seine zu retten. Auch wenn sie so gut wie er wissen mußte, wie sinnlos es war.
Aber der tödliche Angriff, auf den er gefaßt war, kam auch jetzt nicht. Horus starrte Sascha und ihn aus seinen schrecklichen Raubvogelaugen an, und seine geistige Kraft hatte sich zu einer unsichtbaren Faust geballt, die bereit war, zuzuschlagen und alles zu zerschmettern, was sich ihr in den Weg stellte, aber er tat es nicht. Und plötzlich spürte Aton, daß sie nicht mehr allein waren. Ohne daß er auch nur den mindesten Laut gehört oder etwas gesehen hätte, fühlte er, daß hinter ihnen jemand stand. Erst eine gute Sekunde später, was in ihrer Situation eine endlose Zeit schien, gewahrte er einen Schatten aus den Augenwinkeln, und dann trat Yassir neben sie. Er war nicht allein. In seiner Begleitung trat niemand anderer als Petach aus der Nacht hervor, und da war noch eine dritte Gestalt, die ein schwarzer Schemen blieb, obwohl sie kaum einen Schritt hinter Petach und dem Ägypter stand.
Dann herrschte Schweigen. Petach und Yassir starrten den Falkengott an, und Horus erwiderte ihren Blick aus seinen unergründlichen, alten Augen, und dann, langsam, unendlich langsam, löste sich der geistige Würgegriff. Die körperlose Drohung, die wie der Schatten eines Gewitters über der Szene lag, verging.
Petach wandte sich zu ihnen um. Sein Blick streifte für eine Sekunde Atons Gesicht, aber dann wandte er sich an Sascha und bedeutete ihr mit einer Geste, die Arme herunterzunehmen.
»Tun Sie das nicht«, sagte er ruhig. »Er würde Sie vernichten.«
»Ich bin nicht ganz so hilflos, wie Sie -« begann Sascha, wurde aber von Petach sofort und in sehr bestimmtem Ton, wenn auch mit einem Lächeln, unterbrochen.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er. »Trotzdem: Manchmal reichen Tapferkeit und Mut allein nicht aus.«
Sascha zögerte. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, daß sie Angst hatte, und trotzdem nahm sie die Hände erst herunter, als auch Aton neben sie trat und ihr den Arm auf die Schulter legte.
Petach schenkte ihm ein kurzes, dankbares Lächeln, dann wandte er sich wieder zu der Gestalt mit dem Falkenkopf um.
»Geh!« sagte er ruhig. »Du kannst uns nicht besiegen. Nicht hier.«
Horus schwieg. Lange, endlos lange blickte er Petach an, dann drehte er den Kopf und sah zu der schattenhaften Gestalt hinter Petach und Yassir hin, und schließlich, nach noch längerer Zeit, in der das Schweigen langsam unerträglich zu werden begann, sah er nach Osten. Der Himmel dort begann sich allmählich grau zu färben, der Tag kam.
Aton sollte nie erfahren, was der wahre Grund war, aus dem Horus die Konfrontation in diesem Moment scheute - Petach, der heraufdämmernde Morgen mit dem Licht der Sonne, die sein natürlicher Feind war, oder jene dritte, schemenhaft erkennbare Gestalt. Doch schließlich wandte sich Horus um und begann mit ruhigen Schritten den Weg zurückzugehen, den er gekommen war.
Aton sah ihm mit klopfendem Herzen nach. Der Streitwagen stand noch immer dort, wo Horus ihn verlassen hatte. Langsam ging der Falkengott zu ihm zurück, stieg ein, und sofort setzte sich das Gefährt in Bewegung. Weder sein Fahrer noch Horus selbst sahen noch einmal zu ihnen zurück, doch während der Wagen über das Gräberfeld und schließlich wieder auf die Straße hinausrollte, war nicht nur Aton klar, daß die endgültige Konfrontation nur aufgeschoben war. Die Kraftprobe, die sowohl Petach als auch Horus in diesem Moment noch gescheut hatten, würde kommen. Und das sehr bald.