»Es tut mir leid, wenn Sie das so sehen«, sagte er, und es klang nicht nur ehrlich, Aton spürte auch, daß es genauso gemeint war. Sascha wollte antworten, doch Petach schnitt ihr mit einer zugleich sanften wie energischen Geste das Wort ab und machte eine Kopfbewegung zur Straße hin.
»Wir sollten gehen«, sagte er. »Es ist ein gutes Stück zur Stadt, und wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Der lange Traum
Mit dem ersten wirklichen Licht des Tages war Bastet verschwunden, und kaum eine Minute später hatten sie den Tempel verlassen und kurz darauf die Straße erreicht. Trotz Petachs Versicherung, daß das Sonnenlicht sie schützte, beschlich Aton ein ungutes Gefühl, als die Sicherheit der Tempelruine hinter ihnen zurückblieb, und er sah sich ein paarmal nervös um, beinahe davon überzeugt, im nächsten Moment schon wieder den Streitwagen hinter ihnen auftauchen zu sehen. Aber alles blieb ruhig, und sie hatten sogar in anderer Hinsicht Glück: Der Weg zur Stadt erwies sich als wesentlich weiter, als er nach Petachs Worten angenommen hatte, doch schon nach einigen Minuten kam ein Lastwagen gefahren, dessen Fahrer anhielt und sie auf der Ladefläche zumindest bis zur nächsten Ortschaft mitnahm.
Sie stiegen vom Wagen, und nicht nur Sascha sah sich sichtlich enttäuscht um. Die Ortschaft bestand vielleicht aus zwei Dutzend Gebäuden, die sich rechts und links der einzigen Straße reihten und zwischen denen sich nicht das mindeste Leben regte. Wie um alles in der Welt sollten sie von hier weg und wieder zurück nach Kairo kommen?
Noch bevor Aton eine entsprechende Frage stellen konnte, bedeutete Yassir ihnen mit einer Geste zu warten und ging schnell zu einem der Häuser hinüber. Aton beobachtete, wie er an die Tür klopfte, die schon nach einigen Augenblicken geöffnet wurde. Yassir redete eine Weile mit dem Mann, der aus dem Haus trat, wobei er seine Worte mit heftigen Gesten unterstrich und dabei auch ein paarmal zu ihnen zurück deutete, dann wandte er sich um und kam mit schnellen Schritten wieder auf sie zu. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Ihr könnt hier warten. Der Mann wird euch Unterkunft und eine Mahlzeit gewähren.«
»Und Sie?« fragte Sascha.
»Ich werde einen Wagen besorgen«, antwortete Yassir. »Es gibt hier kein Telefon, aber bis zum nächsten Ort ist es nicht sehr weit. Ich bin in zwei, längstens drei Stunden zurück.«
Drei Stunden! Aton atmete hörbar ein, um zu einem heftigen Protest anzusetzen, aber diesmal brachte ihn Sascha mit einer entsprechenden Bewegung zur Ruhe. »Eine kleine Pause wird uns allen guttun«, sagte sie entschieden. »Es nützt nichts, wenn wir bis zur Erschöpfung weiterlaufen und uns vielleicht im entscheidenden Moment die Kräfte verlassen.« Sie deutete fragend auf das Haus. »Spricht der Mann unsere Sprache oder wenigstens Englisch?«
Yassir verneinte. »Er weiß alles, was nötig ist«, sagte er.
»Und darüber hinaus kann ich übersetzen«, fügte Petach hinzu.
Sascha bedachte ihn mit einem feindseligen Blick. Sie sagte nichts, aber ihr Ausdruck machte klar, daß ihr das nicht genügte. Auch Aton war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, noch mehr auf Petach angewiesen zu sein. Aber in einem Punkt hatte Sascha durchaus recht: Er war sehr müde. Auf dem Lastwagen war er schon beinahe eingeschlafen, und jetzt hatte er kaum noch die Kraft, sich auf den Füßen zu halten.
Ohne weitere Einwände folgten sie Yassir und betraten das Haus.
Sein Inneres war noch kleiner und ärmlicher, als Aton bei seinem Anblick vermutet hatte. Es bestand aus einem einzigen, großen Raum, vor dessen Fenster hölzerne Läden angebracht waren, so daß alles in einem unangenehmen Halbdunkel lag.
Ein durchdringender, wenn auch nicht einmal unangenehmer Geruch lag in der Luft, und es gab nur wenige Einrichtungsgegenstände. Der Hausherr, seine Frau und zwei vielleicht zehnjährige Kinder blickten ihnen stumm und mit unverhohlener Neugier entgegen, aber nachdem Yassir einige weitere Worte mit ihm gewechselt hatte, deutete der Mann stumm in den hinteren Teil des Raumes, wo sich einige einfache Lagerstätten befanden; im Grunde nicht mehr als strohgefüllte Säcke, die auf dem nackten Boden lagen. Aton erschien jedoch allein ihr Anblick so verlockend wie der eines seidenbezogenen Himmelbettes. Er war hungrig, und er hatte auch Durst, aber er schlug die entsprechende Einladung ihres Gastgebers mit einem Kopfschütteln aus, ging zu einem der Säcke und streckte sich darauf aus. Und schlief sofort ein.
Und träumte wieder seinen Traum. Er war wieder fünf Jahre alt, und er irrte wieder durch das unterirdische Labyrinth, aber es war später. Die Erinnerung an einen großen Schreck quälte ihn, obwohl er nicht zu sagen vermochte, von welcher Art er gewesen war, und er war verletzt. Seine Schulter tat entsetzlich weh, und bei jedem Schritt schoß ein brennender Schmerz durch seinen rechten Fuß, so daß er nur noch ungeschickt humpeln konnte. Irgendwie war es ihm gelungen, den Verfolger abzuschütteln, aber er hatte Angst, daß ihn dieser wieder einholen würde, und er wußte, daß er nicht noch einmal die Kraft hatte, ihm davonzulaufen.
Das Labyrinth schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder tauchten neue Abzweigungen vor ihm auf, erreichte er eine neue Treppe, eine neue Gangkreuzung, eine andere Tür, die in einen weiteren Stollen, einen weiteren leeren Raum, zu einem weiteren Tunnel führte. Er hatte es längst aufgegeben, sich den Weg merken zu wollen. Er wollte nur noch hier heraus. Er wollte zurück ins Licht, zurück zu seinen Eltern, zurück in die Welt, die er verstand und in der es keine löwenköpfigen, geflügelten Ungeheuer gab, die ihn jagten. Auch sein Gesicht tat weh. Er hatte sich die Wange aufgeschürft, und seine Haut spannte von den eingetrockneten Tränen, denn er hatte geweint, bis sein Hals zu schmerzen begann und ihm die Tränen ausgingen. Manchmal rief er jetzt noch nach seiner Mutter oder seinem Vater, aber nicht sehr oft, denn seine Stimme erweckte ein schauriges Echo in diesen leeren, unheimlichen Gängen, und außerdem konnte er damit das Ungeheuer wieder auf seine Spur bringen. Es war noch da. Obwohl es ihm einmal ganz nahe gewesen war, hatte er es niemals wirklich gesehen, aber er hatte seine Nähe gespürt, und er spürte sie noch immer. Diese unheimliche Welt unter der Erde war das Reich des Ungeheuers, und Aton war nicht sicher, ob es nicht einfach nur mit ihm spielte, ihn einfach nur eine Weile jagte und ihn in der Illusion beließ, doch noch entkommen zu können, nur um dann im allerletzten Moment über ihn herzufallen.
Plötzlich hörte er eine Stimme. Sie war leise, und sie redete in einer Sprache, die er nicht verstand, und doch erschien sie ihm wie der süßeste Klang, den er je vernommen hatte. Trotz der Schmerzen in seinem rechten Fuß und der Anstrengung, die jeder Schritt bedeutete, beschleunigte er sein Tempo, und als er an der nächsten Abzweigung ankam, hörte er die Stimme ganz deutlich. Er erkannte jetzt, daß es zwei Stimmen waren, vielleicht sogar noch mehr, das konnte er nicht genau sagen, denn auch sie wurden von lang widerhallenden, unheimlich verzerrten Echos begleitet.
Etwas war daran, was ihm angst machte, aber das fiel ihm kaum noch auf, denn seit er dieses unterirdische Labyrinth betreten hatte, war er praktisch auf nichts gestoßen, das ihn nicht auf die eine oder andere Weise ängstigte. Zumindest war diese neue Furcht nicht so stark, daß er nicht weitergegangen wäre. Stimmen bedeuteten Menschen, und Menschen bedeuteten, daß er endlich hier herauskam.
Im Gegensatz zu dieser Hoffnung führte der Tunnel nun in schrägem Winkel nach unten und somit tiefer in die Erde hinein, aber nach einer Weile sah er Licht - nicht diesen unheimlichen, grauen Schein, der das unterirdische Labyrinth erfüllte, sondern richtiges gelbes Licht, das flackerte und einen leichten Brandgeruch mit sich brachte: Fackeln. Die Stimmen waren lauter geworden, und nun hörte er sie immerhin deutlich genug, um zu begreifen, warum er sie nicht verstand. Die Männer redeten in einer fremden Sprache, nicht in der Atons, aber es schien auch kein Arabisch zu sein, denn diese Sprache hatte er oft genug gehört, um sie an ihrem Klang zu erkennen. Nicht daß das irgend etwas änderte. Die Männer da vorne hätten Russisch mit starkem Hindu-Akzent reden können, ohne daß Aton langsamer geworden wäre. Außerdem wurde der Boden immer abschüssiger. Er rannte jetzt und hätte wahrscheinlich gar nicht mehr stehenbleiben können, selbst wenn er es gewollt hätte.