Kurz vor dem Ende des Tunnels kam er dann tatsächlich ins Stolpern und wäre gestürzt, wäre er nicht gegen die Wand geprallt und zurückgetaumelt. Er kämpfte um sein Gleichgewicht, drohte dadurch aber nun nach hinten zu kippen. Aton machte einen hastigen Schritt zur Seite, spürte, wie er seine Balance zurückgewann und praktisch in derselben Sekunde etwas unter seinem Fuß nachgab. Mit einem Schrei landete er endgültig auf dem Hosenboden und schlitterte immer schneller weiter, denn das, worüber er in den letzten Minuten gelaufen war, war kein massiver Fels mehr gewesen, sondern Geröll, und der Boden war so abschüssig, daß er in einer immer größer und lauter werdenden Steinlawine auf das Licht und die Stimmen zupolterte. Und eine Sekunde später wurde aus dem, was ihn bisher nur erschreckt hatte, eine tödliche Gefahr.
Der Stollen mündete in eine große, halbrunde Höhle natürlichen Ursprungs, aber nicht zu eben der Erde, sondern in einer Höhe von mindestens fünf, wenn nicht mehr Metern, und Atons Schwung war nun so groß, daß er inmitten einer Flut von Felsbrocken und Geröll noch meterweit ins Leere hinausflog, ehe er, einen gellenden Schrei auf den Lippen, zu stürzen begann. Boden, Wände und Decke der Höhle schienen sich rings um ihn herum hundertfach zu überschlagen, und der Aufprall war so hart, daß er ihm beinahe das Bewußtsein geraubt hätte.
Keuchend vor Schmerz und Benommenheit blieb er liegen. Die Stimmen waren verstummt, als er so plötzlich vom Himmel gefallen war, aber dafür näherten sich jetzt hastige Schritte, und der Tanz der Schatten an der Höhlendecke wurde hektischer, als das Licht der Tackeln näher kam. Aton nahm all das nur wie durch einen dichten Schleier wahr, der sein Bewußtsein zu umschließen versuchte. Er sah zwei Gestalten, die auf ihn zurannten, mit wehenden Gewändern, weit ausgreifenden Schritten und jede eine lodernde Fackel in der Hand schwenkend. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen, aber ihre Kleidung war sonderbar - der eine trug einen einfachen, weißen Burnus mit einem braunen Überwurf, der andere jedoch war in ein prachtvolles, gold und blau gestreiftes Gewand gehüllt, und auf seiner Brust schimmerte und glänzte etwas Goldenes, das Aton nicht genau erkennen konnte.
Aber es war gleich. Trotz der Benommenheit und des rasenden Schmerzes in seinem Bein und seiner Schulter fühlte er sich erleichtert wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Es war völlig gleich, wer die beiden waren, sie waren Menschen, und sie würden ihn hier herausbringen. Und es war wohl auch einzig dieser Gedanke, der ihm die Kraft gab, die Bewußtlosigkeit zurückzudrängen und sich sogar halb aufzusetzen, ehe er mit einem Schmerzenslaut wieder zurücksank.
Der Mann in dem weißen Burnus kniete neben ihm nieder und beugte sich besorgt über Aton. Er hatte ein schmales, asketisch wirkendes Gesicht und gutmütige Augen, und er streckte zwar die Hände nach ihm aus, berührte ihn aber nicht, als wisse er, daß er ihm nicht helfen, ihm damit nur unnötige Schmerzen zufügen würde. »Wie geht es dir?« fragte er. »Bist du verletzt?« Er bediente sich Atons Muttersprache, und das war seltsam, denn Aton hatte bisher kein Wort gesagt, so daß der Mann ja gar nicht wissen konnte, welcher Nationalität er war.
Aber Aton war in diesem Moment viel zu aufgeregt, um darauf zu achten. Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte er den Kopf, und auf Petachs Gesicht breitete sich ein flüchtiges Lächeln aus, denn um niemand anderen handelte es sich bei dem Mann in dem weißen Burnus. Obwohl Aton vollkommen in seinem Traum gefangen war, erkannte er dies mit völliger Klarheit, und er wunderte sich auch ein bißchen, daß er Petach nicht schon längst wiedererkannt und sich an die Szene von damals erinnert hatte. Aber dieses Wissen half ihm nicht, aus seinem Traum zu entfliehen.
»Beweg dich nicht«, sagte Petach. »Du bist in Sicherheit, keine Angst. Dir wird nichts geschehen.« Er hob den Kopf und tauschte einen Blick mit dem Mann in dem blaugoldenen Gewand, dessen Gesicht Aton immer noch nicht deutlich erkennen konnte, denn er war in einigen Schritten Entfernung stehengeblieben und hatte die Fackel gesenkt und ein wenig zur Seite geneigt, fast als legte er Wert darauf, unerkannt zu bleiben. Trotzdem schien etwas Vertrautes an seinen Zügen zu sein, auch wenn er dieses Beinahe-Wiedererkennen erst im nachhinein der Traumszene hinzufügte.
Für eine ganze Weile sahen sich Petach und der Fremde einfach nur an, und obwohl keiner von ihnen ein Wort sagte, ja sich in Petachs Gesicht nicht ein Muskel rührte, spürte Aton doch deutlich, daß zwischen ihnen irgendeine Art geheimnisvoller Unterhaltung stattfand. Schließlich nickte der andere. Petach erwiderte die Bewegung, dann wandte er sich wieder zu Aton um und untersuchte ihn flüchtig, aber doch auf eine Art, die Aton erkennen ließ, daß er wußte, was er tat.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte er. Er bemerkte Atons Erschrecken und fügte rasch und beruhigend hinzu: »Es ist auch nicht sehr schlimm, keine Angst. Wir werden dich von hier fortbringen, und einer eurer Ärzte wird sich um dich kümmern. Es wird alles gut.«
Seine Worte bewirkten das Gegenteil dessen, was sie sollten. Eines hatte Aton bereits gelernt: Wenn Erwachsene sagten, daß es keinen Grund gäbe, Angst zu haben, bedeutete das fast immer, daß es ihn sehr wohl gab. Außerdem war er kein Dummkopf. Der Schmerz in seiner Schulter war so heftig, daß man kein Arzt sein mußte und auch kein Erwachsener, um zu begreifen, daß sie gebrochen war.
»Deine Eltern gehören zu den Touristen, die die Gräber besuchen, nicht wahr?« fuhr Petach fort, während er aufstand und Aton dabei vorsichtig auf die Arme nahm. »Wie bist du überhaupt hier heruntergekommen ? Der Eingang ist doch -«
Er verstummte abrupt, und auch der andere Mann fuhr zusammen und hob den Blick, für einen Moment geriet sein Gesicht nun doch ins Licht der Fackel, und Aton glaubte wieder etwas Vertrautes darin zu erkennen. Aber die Schatten bedeckten es wieder, ehe aus diesem Glauben Gewißheit werden konnte, und dann hörte auch er, was Petach so plötzlich mitten im Satz hatte abbrechen lassen, und der Schrecken, der das Erkennen dieses Geräusches begleitete, war so heftig, daß er jeden Gedanken an den anderen Mann sofort vergaß.
Sie hörten Schritte. Nicht die Schritte eines Menschen, sondern schwere, tappende Pfoten, riesige Krallen, die über Fels scharrten, und das Schaben eines gewaltigen Körpers, der sich mühsam, aber sehr schnell durch die schmalen Gänge zwängte.
Auch Petach schienen diese Laute nicht fremd zu sein. Er drehte sich auf der Stelle herum und fiel schon nach einigen Metern in einen raschen Laufschritt, den sein Begleiter ebenfalls mithielt und der Aton erneut Schmerzen bereitete. Aber er biß tapfer die Zähne zusammen, denn er wußte, daß das, was da hinter ihnen herankam, schlimmer war als jeder Schmerz, den ihm die Erschütterungen von Petachs Schritten zufügen konnten. Dabei wußte er nicht einmal, was es war. In seinen Erinnerungen gähnte ein Loch. Er wußte, daß er vor diesen Schritten geflohen war, lange und vergeblich, und dann hatte er das Licht gesehen und die Kammer betreten, die ...