Er wußte nicht mehr, was darin gewesen war, was er erlebt oder getan hatte. Erst viel später hatte er sich wieder in den lichtlosen Gängen dieses unterirdischen Labyrinths wiedergefunden, erfüllt von dem sicheren Wissen, etwas Unglaubliches, Faszinierendes erlebt zu haben, aber zugleich auch, ohne sich erinnern zu können, was es gewesen war. Aber es hatte etwas mit diesen Schritten zu tun, und sie bedeuteten Gefahr, entsetzliche, unvorstellbare Gefahr, die viel schlimmer war als jeder Schrecken, den diese Tunnel sonst noch bergen konnten.
Petach lief immer schneller, aber das schwere Tappen des Verfolgers blieb nicht hinter ihnen zurück, sondern schien im Gegenteil lauter zu werden. Er hatte die Kraft und Schnelligkeit eines Dämons, und er war hier zu Hause. Die endlosen Stollen und Tunnel waren seine Heimat, seine Welt, in der er sich so geschickt und sicher zu bewegen vermochte wie ein Fisch im Wasser, während Petach, Aton und der Fremde nur Eindringlinge waren.
Der Weg führte nun allmählich wieder nach oben. Sie stürmten einige Treppen hinauf, durch zwei, drei weitere leere Räume, und endlich, als Aton schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, jemals wieder Tageslicht zu sehen, schimmerte weit vor ihnen ein winziger, heller Fleck.
Doch die Erleichterung, die dieser Anblick bedeutete, hielt kaum eine Sekunde. Hinter ihnen erscholl ein zorniges Brüllen, das von den Wanden des Tunnels aufgefangen und als hundertfach gebrochenes, verzerrtes Echo zurückgeworfen wurde, und plötzlich blieb Petach stehen, setzte Aton ab und stellte sich schützend vor ihn.
Atons verletztes Bein gab unter dem Gewicht seines Körpers nach, und er wankte, stürzte gegen die Wand und hatte kaum die Kraft, sich an dem rauhen Stein festzuhalten. Und dann schrie auch er auf, als er sah, was hinter Petach und ihm aufgetaucht war.
Das Ungeheuer war so groß, daß es Mühe hatte, sich in dem Tunnel überhaupt vorwärtszubewegen. Es hatte den Körper eines Löwen, aber unter der gewaltigen schwarzen Mähne blickte Aton ein menschliches Gesicht an, und aus seinen Schultern wuchs ein Paar riesiger, ebenfalls schwarzer Flügel, die jetzt eng zusammengefaltet am Leib lagen, trotzdem aber rechts und links an den Wänden des Tunnels entlangstreiften. Seine Krallen waren so groß und ebenso tödlich wie Messer, und das tiefrote Lodern in seinen Augen ließ keinen Zweifel daran aufkommen, weshalb es gekommen war.
»Lauf!« schrie Petach. »Lauf weg, Junge! Wir halten sie auf.«
Aton vergaß den Schmerz in seiner Schulter. Er vergaß das grausame Stechen in seinem Fuß, seine Schwäche und Müdigkeit, stieß sich von der Wand ab und rannte los, erfüllt von der absoluten Kraß, die die Todesangst verleiht. Die Sphinx brüllte erneut und so laut, daß Wände und Boden des Stollens zitterten und sich kleine Steine und Staubfahnen von der Decke lösten, und sie hätte sicher unverzüglich zur Verfolgung angesetzt, hätten Petach und der andere nicht ihre Fackeln geschwungen und sie damit zurückgetrieben. Aton bezweifelte, daß sie dem Ungeheuer damit ernsthaften Schaden zufügen konnten, aber das Feuer schien es zumindest zu ängstigen, denn es wich tatsächlich ein kleines Stück zurück, ehe es die Tatzen hob und die beiden Menschen mit wütenden Krallenhieben auf Distanz hielt.
Aton rannte, so schnell er nur konnte. Der Flecken hellen Tageslichts kam rasch näher, aber er wußte auch, daß Petach und der andere die Sphinx nicht lange aufhalten konnten - und daß seine Kräfte nicht ewig reichten. Hinter ihm wurden das Brüllen und das Geräusch des zornigen Vor und Zurück des Ungeheuers lauter, und dann hörte er einen Schmerzensschrei und Augenblicke später ein triumphierendes Fauchen. Als ersieh umblickte, sah er, daß Petach gestürzt war und auf dem Boden lag. Der andere Mann stand breitbeinig über ihm und schwang seine Fackel mit beiden Händen. Das brennende Holz zeichnete lange Spuren aus Flammen und Funken in die Luft, und tatsächlich gelang es ihm, die Sphinx so lange zurückzudrängen, bis Petach sich auf die Füße erhoben hatte.
»Lauf!« schrie Petach noch einmal. Er hatte sich zu Aton umgewandt und gestikulierte heftig mit beiden Armen. Aton versuchte auch, schneller zu laufen, aber es ging nicht. Er spürte, wie seine Kräfte nun rapide nachließen und der Schmerz in seinem Fuß mit jedem Schritt schlimmer wurde. Aber erfühlte auch, daß er in Sicherheit war, wenn es ihm nur gelang, ins Freie zu kommen. Die Sphinx war ein Geschöpf der Nacht, eine Kreatur der Finsternis, die nur im Dunkeln existieren konnte und für die das Tageslicht ein Feind war. Es war nicht mehr weit. Dicht vor ihm endete der gemauerte Stollen und ging in eine niedrige, natürlich entstandene Höhle über. Das Laufen wurde auf dem unebenen Grund noch schwieriger, aber der Anblick des rettenden Tageslichts gab ihm noch einmal zusätzliche Kraft.
Und beinahe hätte er es auch geschafft.
Der Höhlenausgang war vielleicht noch zehn Meter entfernt, als hinter ihm ein ungeheuerliches Brüllen aufklang. Aton sah sich im Laufen um - und schrie abermals erschrocken auf. Die Sphinx hatte Petach und den anderen einfach niedergerannt. Einer ihrer Flügel brannte, und die Fackeln der beiden Männer hatte tiefe Spuren in ihr Fell gegraben, aber das schien die Wut der Bestie noch zu steigern. Mit einem einzigen, gewaltigen Satz brach sie aus dem Tunnelende hervor, breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. Mit weit vorgestreckten Krallen raste sie auf Aton zu.
Aton kreischte vor Angst und Entsetzen, riß in einer instinktiven Bewegung schützend die Arme vor das Gesicht und verlor dadurch endgültig die Balance.
Er stürzte. Die Krallen der Sphinx verfehlten sein Gesicht um Haaresbreite, aber eine ihrer Schwingen traf seine Schulter, und obwohl sie ihn im Grunde nur streifte, reichte diese Berührung doch aus, Aton mitten im Sturz herumzuwirbeln und wieder in die Höhe zu reißen.
Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise und Sterne. Er hatte sich auf die Zunge gebissen und schmeckte Blut, und als er sich hochstemmen wollte, wäre er beinahe unter der Anstrengung zusammengebrochen. Wahrscheinlich schaffte er es nur, weil in diesem Moment auch die Sphinx bereits wieder in die Höhe kam und zu einem zweiten Angriff ansetzte. Und diesmal war sie so nahe, daß sie ihn gar nicht verfehlen konnte!
Der Anblick war so schrecklich, daß Aton selbst seine Angst für einen Sekundenbruchteil vergaß. Das Ungeheuer war gestürzt.
Wo es gegen die Wand geprallt war, war der Felsen geborsten, und das dämonische Gesicht der Sphinx war voller Blut. Ihr rechter Flügel brannte noch immer, aber nichts von alledem schien sie irgendwie zu behindern. Und sie bewegte sich trotz ihrer Größe unvorstellbar schnell und elegant.
Aton sprang hoch und rannte blindlings auf den hellen Fleck neben sich zu. Die Strecke betrug vielleicht fünf oder sechs Schritte für Aton - aber für die Sphinx war es nur ein einziger kraftvoller Satz. Aton wagte es nicht, sich zu dem Ungeheuer herumzudrehen, aber er spürte, wie der Boden unter ihr erzitterte, als die Sphinx sich abstieß, und er konnte regelrecht fühlen, wie etwas Riesiges auf ihn zuflog.
Aton sah nun doch über die Schulter zurück. Die Sphinx war gesprungen und schien wie ein lebender Berg auf ihn herabzustürzen. Fänge und Krallen blitzten wie tödliche Dolche, und der brennende Flügel zeichnete eine Funkenspur in die Luft. Aton war noch einen Schritt vom Ausgang entfernt, aber er wußte, daß er es nicht schaffen würde.
Doch dann sah er noch etwas anderes: Petach riß plötzlich in einer beschwörend wirkenden Geste beide Arme in die Luft und ... dann war da plötzlich noch eine andere unsichtbare Gewalt, so stark und zerstörerisch wie die Sphinx, aber hundertmal schneller.