»Das haben wir alle gebraucht«, nuschelte van Swieten. »Mitten in der Premiere eine kleine Aufmunterung von Harry.«
»Dieser Mann ist sich selbst der ärgste Feind.«
»Und stell dir mal diese Konkurrenz vor.«
Boris machte gerade Tee in Plastiktassen, und als er den Kessel schwenkte, fragte er: »Meint ihr, ich soll auch etwas Tee für Esslyn und sein kriecherisches Gefolge machen?«
»Wo stecken die überhaupt?«
»Ich habe ihn zum letzten Mal in den Kulissen gesehen, wie er sich über Joyces Kuchen hergemacht hat. Mein Gott, David, du schusseliger Teufel...«
»Entschuldige.« David Smy riß ein Blatt von der Küchenrolle ab und wischte damit den Tee auf. »Ich hab’ es einfach nicht gesehen.«
»Ich habe mitgekriegt, wie sie alle drei zur Toilette gegangen sind.«
»Oh...« Boris schwenkte seine schlaffe Rechte. »Ein hübsches Dreiergespann, nicht wahr? Ich setze auf Cressida.«
»Niemals. Du kannst ja alles mögliche über Esslyn sagen, aber ich glaube einfach nicht, daß er schwul ist.«
In genau diesem Moment erschienen die drei Besagten in der Tür. Sie standen betont still da; ihre Schatten waren übermächtig, und der überhitzte, stickige Ort schien sich plötzlich radikal abzukühlen. Es war ganz offensichtlich, daß irgend etwas schiefgegangen sein mußte. Die Blicke der Everards zeigten eine verschlagene Erwartungshaltung, und Esslyn, dessen Augen funkelten, ließ den Kopf begierig und forschend vorschnellen. Nicholas kam der Schädel auf einmal irgendwie länger und abgeflachter vor. Das Haupt einer Schlange. Dann tadelte er sich selbst wegen solcher dümmlichen Vergleiche. Es war sicher bloß ein Lichteffekt. Reine Phantasie. Genauso, wie er sich bloß einbildete, daß Esslyn ihn jetzt ansah. Ihn zu durchschauen versuchte. Trotzdem war Nicholas’ Kehle ausgetrocknet, und er nippte dankbar an seinem Tee.
Esslyn setzte sich und begann, seine Sachen zu ordnen. Er wirkte zwar immer gefaßt, jetzt jedoch beinahe klinisch abwesend. Aber die übervorsichtigen Bewegungen seiner Hände und das Zittern seines Kiefers, das nur unvollständig durch die zusammengepreßten Lippen kontrolliert wurde, und dieser schrecklich seelenlose Glanz in seinen Augen sprachen für sich. Keinem in der Garderobe blieb verborgen, daß der Hauptdarsteller des Ensembles vor unterdrückter Wut fast überkochte.
Boris sammelte schweigend die Tassen ein, und die üble Bemerkung, die gerade gemacht worden war, hatte sich genauso schnell verdünnisiert, wie sie aufgekommen war. Als der Summer schrillte, sah jeder zu, daß er sofort wegkam, und machte dabei vorsichtig einen weiten Bogen um Esslyn. Als er schon draußen war, drehte sich Nicholas noch einmal nach ihm um und erntete einen derart boshaften Blick, daß er das Gefühl hatte, ihm hätte jemand in den Magen getreten. Jetzt war er doch davon überzeugt, daß seine Beobachtung von vorhin nicht der Einbildungskraft entsprungen war. Daher wandte er sich eilig ab, bemerkte aber trotzdem noch, wie Esslyn all seine Ringe abstreifte.
Warum ihn das so sehr berührte, konnte sich Nicholas nicht erklären. Vielleicht lag es nur daran, daß diese vulkanische Laune kraß von Esslyns normalem Verhalten abwich und deshalb Anlaß zur besonderen Sorge gab. Wie dem auch sei, Nicholas begab sich zu den anderen Darstellern in den Kulissen, blieb dort ganz ruhig stehen, hielt sich ein wenig abseits, ging noch einmal seine nächste Szene durch und zwang seinen Geist gewaltsam wieder in das achtzehnte Jahrhundert zurück.
Wenige Sekunden vor Beginn spähte Dierdre in das Auditorium. Sie hatte ihrem Vater eine Tasse Kaffee gebracht und ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, ein wenig Brandy hineinzugeben (er schien so ruhig zu sein, und ihm war sicher auch noch kalt), aber da sie nicht wußte, wie sich das mit seinen Medikamenten vertragen würde, entschied sie sich dagegen. Jetzt beobachtete sie ihn, wie er mit unnatürlich glänzenden Augen die Bühne anstarrte und dabei ganz vorn auf seinem Sitz saß, so als wolle er sich auf ein sofortiges Aufstehen vorbereiten. Es war ein fürchterlicher Fehler gewesen, daß sie ihm erlaubt hatte, zur Premiere zu kommen. In der Pause war sie schon kurz davor, ein Taxi zu rufen, das ihn heimbringen sollte, aber dann hatte sie doch um seine Sicherheit gebangt, weil er in diesem Falle bis elf Uhr allein zu Hause gewesen wäre.
Colin legte eine Hand auf ihren Arm, und sie nickte, und ihre Aufmerksamkeit galt nun wieder ganz der Eröffnungsszene des zweiten Akts. Esslyn stand schon auf seiner Position, eine graue Gestalt, die über den Rücken seines Stuhls gelehnt war. Als sie sich daranmachte, den Vorhang hochzuziehen, hob er den Kopf und blickte in die Kulissen. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck derart kontrollierter Wut, daß Dierdre trotz der Entfernung, die zwischen ihnen lag, automatisch einen Schritt zurückwich und mit Kitty zusammenstieß. Dann gab sie Tim ein Zeichen, die Lichter im Haus gingen aus, und das Stück begann.
Esslyn wandte sich dem Publikum zu und deklamierte: »Ich habe den Katzen im Hof zugehört. Sie singen alle Rossini.«
Schweigen. Totale Stille, von keinem Lachen, durch kein schlimmes Husten, Rascheln oder die Bewegung eines Fußes unterbrochen. Absolute Stille. Esslyn trat ins Rampenlicht. Seine Augen, die wie Feuerstifte glühten, durchforsteten das Publikum, ließen es erstarren und hielten es in Bann. Er sprach in einem fürchterlich auf geladenen Unterton über Tod und Haß. Mr. Tibbs in der letzten Reihe wimmerte leise. Seine Nackenhaare schienen sich ein wenig aufzurichten, obwohl kein Lufthauch durch den Raum ging. Das Knäuel aus Darstellern und Bühnengehilfen stand in den Kulissen wie Statuen, und Dierdre gab das Zeichen für Constanzes Auftritt.
Die meisten Darsteller lieben einen guten Streit auf der Bühne, und der zwischen Mozarts Frau und Salieri hatte stets gut geklappt. Nun schrie Kitty: »Du verdammter Mistkerl!« und bearbeitete ihren Ehemann mit Fäusten. Sie stand mit dem Rücken zu Dierdre, die Esslyns Gesicht sehen konnte und mit wachsendem Schrecken beobachtete, wie er seine Frau bei den Schultern packte und sie schüttelte, und zwar nicht in der gespielten Wut, wie bei den Proben, sondern in wildem Zorn, mit gefletschten Zähnen. Kittys Schreie wurden ebenfalls immer echter. Sie wurde herumgewirbelt, das Haar fiel ihr in goldenen Strähnen über das Gesicht, und ihr Kopf wurde nach vorn und wieder zurückgeschleudert, so als hätte er keinen natürlichen Halt mehr. Es schien nur noch eine Frage von Augenblicken, wann ihr Genick brechen würde. Dann schleuderte Esslyn sie derart gewaltsam von sich, daß Kitty über die Bühne schlitterte und erst zum Halten kam, als sie in den Proszeniumsbogen krachte.
Dierdre war wie gelähmt und konnte gerade noch fragend Colin ansehen. Ihre Hand bewegte sich bereits auf den Auslöser des Vorhangs zu, aber Colin schüttelte den Kopf. Kitty stand einen Moment atemlos da und rang nach Luft, dann sog sie wie eine Ertrinkende den Atem ein, machte zwei Schritte nach vorn und fiel in Dierdres Arme. Dierdre führte sie zu dem einzigen freien Platz in der bevölkerten Kulisse (neben dem Requisitentisch) und hob einen der kleinen vergoldeten Stühle auf. Sie setzte das Mädchen behutsam auf den Stuhl, reichte ihr Schreibbrett Colin und nahm Kittys Hand in ihre.
»Ist sie in Ordnung?« Nicholas kam auf Dierdre zu und flüsterte: »Was zum Teufel ist denn hier los?«
»Es ist Esslyn. Ich weiß nicht... es scheint, als hätte er sich plötzlich etwas ganz Neues einfallen lassen. Er hat sie einfach über die Bühne geschleudert.«
»Himmel...«
»Kannst du hier bei ihr bleiben, solange ich ein paar Aspirin hole?«
»Ich muß in zwei Sekunden raus.«
»Dann ruf doch bitte einen der unwichtigeren Bühnenarbeiter. Kitty... ich bin gleich wieder da, klar?«