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»...mein Rücken... ahhh... Gott...«

Dierdre rannte zur Damengarderobe. Der Erstehilfekasten stand immer unter der Fensterbank in einer Ecke hinter den Kostümstangen, aber jetzt war er nicht dort. Verzweifelt begann sie, ihn zu suchen, und warf dabei wahllos die Straßenkleidung der Darstellerinnen - Rosas Pelzmantel, Joyces grauen Wollmantel, verschiedene Kleider und Blusen - durch die Gegend. Sie kniete sich hin, schleuderte Schuhe und Stiefel zur Seite. Nichts. Und dann sah sie ihn. Er stand hinter Rosas Perückenhalter. Sie ergriff den Kasten, nahm die Packung Aspirin heraus und kämpfte anschließend mit dem Schraubverschluß. Er schien irgendwie zu klemmen. Dann fiel ihr ein, daß es sich um eine Kindersicherung handelte und sie den Schraubdeckel erst nach unten drücken mußte. Als sie schließlich drei Tabletten herausgeholt hatte, erkannte sie jedoch die Vergeblichkeit ihres Tuns. Aspirin war gut gegen gewöhnliche Unpäßlichkeiten. Kopfschmerzen, erhöhte Temperatur. Was aber, wenn Kittys Wirbelsäule verletzt war? Was war, wenn jede Sekunde Nichtstun die schreckliche Gefahr einer Lähmung vergrößerte? Plötzlich bekam Dierdre es mit der Angst zu tun. Sie hätte nicht auf Colin achten und die Aufführung stoppen sollen. Sie hätte fragen müssen, ob ein Arzt anwesend wäre. Sie würde die Schuld daran tragen, wenn Kitty nie wieder laufen konnte. Sie verbannte diese furchtbare Vorstellung aus ihrem Kopf und stammelte: »Wasser... Wasser.« Es standen etliche Tassen und Plastikbecher herum, aber in allen waren dreckige braune Reste. Dierdre nahm die nächstbeste Tasse, spülte sie kurz aus, füllte sie halb mit Wasser und rannte in die Kulissen zurück.

Das erste, was sie hörte, war Nicholas’ Stimme auf der Bühne. Das bedeutete, daß die erste Szene bereits vorbei war; das Bühnenbild wurde gewechselt und der zweite Aufzug würde gleich beginnen. Sie war also länger unterwegs gewesen, als sie geglaubt hatte. Sie eilte zu dem Requisitentisch, doch der Stuhl, auf dem sie Kitty zurückgelassen hatte, war leer. Dierdre ging auf Colin zu, der ihr »Wo ist sie?« mit den Worten beantwortete: »Auf der Toilette.«

Als Dierdre hereinkam, lief Kitty auf dem gefliesten Boden auf und ab. Ihr Gang war steif, und sie blieb zwischendurch immer wieder stehen, um ihre Schultern zu entspannen, aber sie lief immerhin, Gott sei Dank. Dierdre reichte ihr das Aspirin und das Wasser, um mit einer Flut von Schimpfwörtern bedacht zu werden, wie sie diese noch nie zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Tatsächlich galten sie alle Kittys Ehemann, aber Dierdre, die nun einmal zufällig in der Schußlinie stand, war trotzdem schockiert. Das Fluchen brachte Kittys Gesicht zum Glühen, und Dierdres »Psssts« waren vergeblich. Einige der Ausdrücke kannte Dierdre aus dem Text von Amadeus, ein oder zwei weitere von den wenigen Gelegenheiten her, bei denen sie gezwungen gewesen war, eine öffentliche Toilette aufzusuchen, aber die anderen waren ihr absolut unbekannt. Und dann hatten sie auch noch einen ganz eigenen Klang, so als könnten gewöhnliche Beschimpfungen und Beleidigungen nicht einmal im Ansatz Kittys Zorn gerecht werden, weshalb diese sich anscheinend gezwungen sah, eigene derbe Wortschöpfungen zu erfinden.

»Bitte...«, sagte Dierdre in einem eindringlichen Flüsterton. »Das Publikum könnte dich hören.«

Daraufhin war Kitty still, gab jedoch mit einer plötzlich sehr ruhigen Stimme noch einen Satz von sich. »Wenn er mich auch nur noch ein einziges Mal anrührt«, drohte sie, »dann werde ich ihn umbringen, verdammt noch mal.«

Dann ging sie, immer noch mit langsamen Bewegungen und etwas steif, und Dierdre blieb mit offenem Mund und den drei Aspirins, die sich inzwischen in ihrer verschwitzten Handfläche aufgelöst hatten, zurück.

Barnaby und Troy waren sich, wie übrigens auch der Rest des Publikums, über die außergewöhnlichen Veränderungen im klaren, die Amadeus im zweiten Akt widerfahren waren. Es kam ihnen zu diesem Zeitpunkt so vor, als wäre das ausschließlich dem Darsteller zu verdanken, der den Salieri spielte.

Im ersten Akt hatte er eine gute, weil von den Pannen völlig unbeeindruckte Vorstellung gegeben. Jetzt im zweiten Akt schien sein gesamter Körper von explosiver Energie durchdrungen, die er kaum zurückhalten konnte. Es würde mich nicht wundern, dachte Barnaby, wenn er beim Zusammenschlagen der Hände oder dem Fersenstampfen auf der Bühne Funken versprühen würde. Die Luft, durch die er lief, während er Schwaden unterdrückter Wut hinter sich herzog, schien elektrisch geladen zu sein. Maureen Troy glaubte, sie hätte Coronation Street doch nicht ganz umsonst verpaßt, und Barnaby entdeckte, daß selbst seine Tochter jetzt gebannt dasaß und sich sogar nach vorn gebeugt hatte.

• Salieris erstaunliche Verwandlung half dem Stück im Grunde jedoch nicht. Der Rest der Besetzung schien jetzt eher entmutigt zu sein. Statt mit Esslyn zu spielen, so wie sie es vorher getan hatten (wenn auch mit unterschiedlichen Graden an Überzeugungskraft), navigierten sie nun übervorsichtig an seiner Umlaufbahn vorbei, so daß selbst beim direkten Dialog jeder Blickkontakt gemieden wurde.

Nicholas wartete auf seinen Auftritt und blickte in die strahlend hell erleuchtete Arena. Er war angespannt, aber frei von Furcht. Er reagierte sogar eher positiv auf die prickelnde Energie, die Esslyn bis hinter die Kulissen versprühte. Nicholas fühlte, wie sein eigenes Blut kochte. Er wußte, daß er sich der Kraft des Anderen entgegenstellen und sie sogar noch übertreffen konnte. Sein Geist war klar, sein Körper bebte in freudiger Erwartung. Er trat auf die Bühne und nahm nicht mehr wahr, wie Kaiser Joseph ihm zuflüsterte: »Paß bloß auf.«

Aber selbst, wenn Nicholas es gehört hätte, er wäre diesen Worten nicht gefolgt. Er wollte nicht leisetreten. Für ihn kam immer die Aufführung zuerst. Also ging er energisch auf Salieri zu, und als Esslyn sagte: »Ich fühle mit dem Verlierer«, und seine Hand ausstreckte, schlug Nicholas nur zu gern ein. Esslyn trat sofort vor den Jungen, verdeckte ihn vor dem Publikum, hielt Nicholas’ Hand und drückte zu. Und drückte. Fester. Und noch fester.

Nicholas’ Lippen verzogen sich gegen seinen Willen, zu einem stummen Schmerzensschrei. Seine Hand fühlte sich an, als wäre sie von einem Band wilder, spitzer Dornen umschlungen. Esslyn lächelte ihn mit einem breiten Schakalgrinsen an. Dann, gerade als Nicholas glaubte, der Schmerz würde ihn überwältigen, ließ Esslyn plötzlich los und huschte zum hinteren Teil der Bühne. Nicholas brachte nur noch eine einigermaßen vernünftige Annäherung an seinen Text zustande und schaffte es, zu seinem Flügel zu gehen und sich hinzusetzen. Die Venticellis traten auf, und Mozart, der nichts mehr zu sagen hatte, nutzte die Gelegenheit, seine Hand zu untersuchen. Sie war bereits geschwollen. Er Streckte behutsam die Finger aus. Der Handrücken war schlimmer dran als die Handfläche. Auf der Haut waren einige blaue Quetschungen zu sehen, und an manchen Stellen war die Haut tatsächlich aufgesprungen. Die ganze Hand sah aus und fühlte sich auch so an, als hätte jemand versucht, Reißzwecken hineinzuhämmern. Am Schluß der Szene machte er seinen Abgang. Colin kam in den Kulissen auf ihn zu.

»Dierdre meint, wir sollten das Ganze stoppen.«

Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich kann weiterspielen. Ich weiß jetzt, wie.«

»Laß mich mal sehen.« Colin starrte die Hand an und zog scharf die Luft ein. »Damit kannst du unmöglich weitermachen.«

»Natürlich kann ich das.« Nicholas, der den Schrecken dieses plötzlichen Angriffs überwunden hatte, war nun, abgesehen von dem Schmerz, eher erleichtert, weil er endlich die Gelegenheit hatte, seine kühle Professionalität zu beweisen. Er gehörte zur Truppe. Und Truppenmitglieder marschieren weiter, ganz gleich wie.

Dierdre legte zart eine Hand auf seinen Arm und flüsterte: »Was ist passiert?«

»Seine Ringe.« Nicholas streckte die Hand aus. »Ich dachte, er hätte sie abgesetzt, aber er hat sie bloß umgedreht.«