»Zum Teufel«, murmelte Boris, der über Dierdres Schulter schaute. »Damit wirst du aber eine ganze Weile keine Geige mehr spielen können.«
»Aber wieso macht er das?« wunderte sich Dierdre, und Nicholas zuckte ahnungslos mit den Schultern.
Auf der Bühne schrie Salieri seinen Triumph heraus: »Ich füllte meinen Kopf mit goldenen Einfällen, ja! Und dieses Haus mit goldenen Möbeln«, und die ganze Bühne wurde in ein warmes Bernsteinlicht getaucht. Goldene Stühle und Tische wurden auf die Bühne getragen. Joyce Barnaby stand neben Nicholas und hielt ein dreistöckiges Kuchentablett, das gelb angestrichen war.
Nicholas nickte ihr beruhigend zu, um zu zeigen, daß er gefaßt und mutig war. Tatsächlich aber war er weder das eine noch das andere. Er war sehr aufgeregt, ziemlich besorgt und ausgesprochen wütend. Aber er bemühte sich, seinen Zorn zu unterdrücken. Die Zeit, ihn herauszulassen, würde später noch kommen. Jetzt mußte er sich zunächst mal der nächsten halben Stunde mit ihren Herausforderungen stellen. Es standen noch mehr Szenen allein mit Salieri an, aber nur eine, in der sie erneut Körperkontakt (wieder einen Handschlag) haben würden, und auf diesen Händedruck würde er vorbereitet sein. Der Mann konnte ihm ja schließlich kaum einen ernsthaften körperlichen Schaden zufügen, wenn ihm hundert Menschen dabei zusahen.
Im Publikum, während seine außergewöhnliche Tochter mit gebannter Aufmerksamkeit neben ihm saß, weiteten sich Barnabys Nüstern, und er nahm Witterung auf. Der Geruch in diesem Theater kam ihm bekannt vor. Und wie sollte es auch anders sein? Schließlich hatte er einen großen Teil seines Lebens mit diesem Geruch in seiner Nase verbracht. Ein intensiver, durchdringender Geruch, heftig und drückend. Der ganze Ort stank danach. Es war der Geruch der Gewalttätigkeit. Er zog den größten Teil seiner Aufmerksamkeit von dem Stück ab und blickte sich um. Alles war ruhig und still. Er konnte Harolds Profil sehen, das ungläubiges Vergnügen ausdrückte. Seine Frau sah einfach nur erschrocken aus. Andere saßen mit weit aufgerissenen Augen da und wagten nicht einmal zu blinzeln. Eine Frau biß sich auf ihre Unterlippe, eine andere preßte beide Fäuste gegen ihre Wangen.
Barnaby drehte langsam den Kopf. Nicht jeder Blick war nach vorn gewandt. Sergeant Troy, wachsam, sogar ängstlich, sah sich ebenfalls um.
Hinter ihnen in der letzten Reihe umklammerte ein alter Mann die Rückenlehne des Sitzes vor sich und stemmte sich dann so fest dagegen, daß es schien, als müßten die Knochen seiner Wirbelsäule in der Wand hinter der Lehne seines Stuhls einen Abdruck hinterlassen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine schreckliche Vorahnung, gepaart mit dem verzweifelten Flehen um Gnade. Er wirkte wie ein Kind, das nicht weiß, was richtig oder falsch ist, aber dennoch eine harte Strafe erwartet.
Barnaby wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne und damit auch dem Quell seiner Besorgnis zu. Esslyn war wie ein Besessener. Er schien unentwegt unter Strom zu stehen. Selbst wenn er sich auf den hinteren Teil der Bühne zurückgezogen hatte und dort im Schatten stand, pulsierte Energie durch ihn und um ihn herum, so als stünde er in einem Magnetfeld. Barnaby sehnte sich das Ende des Stücks herbei. Obwohl er Joyce nicht in Gefahr sah, wäre er froh gewesen, wenn man Amadeus abgebrochen hätte, damit man das, was Esslyns rasende Wut ausgelöst hatte, auf eine ordentliche Weise ermitteln und aus der Welt schaffen konnte. Es war ganz offensichtlich, daß es etwas mit Kitty zu tun hatte.
Diese kam nun wieder auf die Bühne, war hochschwanger und stützte sich schwer auf Mozarts Arm. Sie wirkte weder erschüttert noch niedergeschlagen. Ihr Knicks vor Salieri geriet eher zu einer ironischen Geste, bei der sich ihr Mund zu einer harten Linie formte und ihre Augen blitzten. Als sie sagte, »Ich träume niemals, Sir. Die Dinge wären unangenehm genug, um mich zu wecken«, klang ihre Stimme rauh und hart vor lauter Grimm. Barnaby sah auf seine Uhr (noch zwanzig Minuten), wollte sich etwas entspannen und der hinreißenden Musik der Zauberflöte hingeben. Wie tief verwurzelt und wie erbarmungslos mußte Esslyns Haß sein, wenn derart grandiose Klänge ihn nicht versöhnlicher stimmen konnten.
Jetzt näherte sich Salieri, in einen langen grauen Umhang gehüllt, mit Hut und einer Maske, die die obere Hälfte seines Gesichtes verdeckte, als Vorbote des Todes unaufhaltsam Mozart, der gerade auf einem Blatt Papier herumkritzelte und wie ein Irrer an seinem Requiem komponierte, um dieses noch termingerecht fertigzustellen.
Nicholas spielte sich in eine fiebrige Euphorie. Obwohl er den ganzen Abend von einer mehr oder weniger gleichbleibenden Angst heimgesucht worden war, hatte er einige brillante Augenblicke erlebt, die ihm gezeigt hatten, daß er, was seine Mozart-Darstellung anging, durchaus auf dem richtigen Weg war. Phasenweise hatte es sich beinahe wie von selbst gespielt, so als hätte es die ganze erdrückende Disziplin der Proben nie gegeben. Ich kann es schaffen, dachte Nicholas und war wie benommen vor Jubel. Eine düstere Gestalt schritt durch die Tür seiner jämmerlichen Wohnung auf ihn zu, bis sie hinter ihm stand.
Hinterher, als er Barnaby die Szene schildern sollte, war es Nicholas nicht mehr möglich, den exakten Moment zu beschreiben, in dem der gespielte Schrecken, mit dem er Salieris phantasmagorische Erscheinung erkannte, verschwand und die Sache wirklich ernst wurde. Vielleicht war es der Augenblick, als Esslyn eine knochige Hand auf seine Schulter legte und ihn mit verbittertem Atem anhauchte. Vielleicht schlug das Ganze aber auch erst völlig um, als Esslyn plötzlich abstoppte und einen Stuhl zur Seite warf, den Nicholas als mögliche Barriere zwischen ihnen eingeplant hatte. Oder der Wendepunkt war der Moment, als Salieri flüsterte: »Stirb, Amadeus... stirb.«
Automatisch hatte Nicholas an dieser Stelle genau das getan, was er auch in den Proben immer getan hatte: Er ließ sich auf alle viere fallen und verkroch sich unter dem Tisch, der als Schreibtisch und Bett gleichzeitig diente. Der Tisch schloß mit dem Proszeniumsbogen ab und war fest verankert. Colin hatte schweren Filz zu beiden Seiten des Betts auf dem Boden befestigt. Daher saß Nicholas in der Falle, als Esslyn im Eingang eine kauernde Haltung einnahm und seinen Umhang wie große graue Schwingen ausbreitete.
Er kroch so weit zurück, wie es ihm in dem dunklen, engen Raum nur irgend möglich war. Die Luft war hier ziemlich dick, denn der faulige Geruch des alten Filzes und Esslyns Schakalatem hingen darin. Esslyn verzog seine Lippen zu einer schrecklichen Parodie des Lächelns. Und Nicholas erkannte, daß seine frühere Einschätzung (ihm würde vor den Augen von hundert Menschen schon nichts passieren) falsch war. Er glaubte jetzt, daß Esslyn nicht von den Ängsten eines normalen Menschen zurückgehalten würde, der fürchtete, ertappt zu werden. Esslyn war nämlich, entschied Nicholas, ein total verrückter Spinner.
Jetzt griff Esslyns Hand, die mit einem Schlagring voller silberner Dornen und harter, verletzender Steine bewaffnet war, nach seiner Kehle. Und Nicholas kürzte den Rest der Szene ab, indem er Kittys Stichwort schrie: »Oragna figata fa! Marina gamina fa!« Er hörte ihre Schritte von der anderen Seite des Tuchs und ihr erstes Wort: »Wolfie?« Esslyn zog erst seine Hand zurück, dann den ganzen Arm, die Schultern und schließlich auch seine üble Grimasse. Als Nicholas wieder hervorgekrochen kam, hatte sich Salieri noch einmal in den Schatten zurückgezogen.
»Stanzerl...« Nicholas klammerte sich an Kitty. Sie stützte ihn und half ihm dabei, auf den Tisch zu klettern, und sie ordnete seine Kissen. Seine Sterbeszene (diese wunderbare Sterbeszene, an der er so schwer gearbeitet hatte) verkam zu einem Nichts. Er brabbelte seinen Text herunter, wobei er ununterbrochen über Kittys Schultern hinweg jene Gestalt anstarrte, die, ganz in Grau gehüllt, im Dunkeln wartete. Als Nicholas gestorben und ohne jedes Zeremoniell in das Armengrab (eine hinter dem Kamin versteckte Matratze) geworfen worden war, blieb er dort zunächst einige Momente liegen und kroch dann in die Kulissen zurück. Er begab sich zu dem Stuhl neben dem Requisitentisch, ließ sich darauffallen und lehnte den Kopf an die Wand.