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Er hatte sofortige Aufmerksamkeit und Mitgefühl erwartet und war daher überrascht, als keiner Notiz von ihm nahm; dann aber wurde ihm bewußt, daß sie ja gar nicht wissen konnten, was da unter dem verhangenen Tisch geschehen war. Und dann spürte er, daß auch seine andere Hand, oder besser gesagt, sein Daumen, wie Höllenfeuer brannte. Er hielt ihn hoch, aber das Licht war so dämmerig, daß er nur den Umriß erkennen konnte. Er lief nach unten und kam an Dierdre vorbei, die gerade nach oben lief, »Vorsicht« schrie und dabei einen Kessel mit dampfendem Wasser vor Nicholas in Sicherheit brachte.

In dem hellen Licht der Herrengarderobe entdeckte er, daß er sich einen großen Splitter in die eine Seite des Daumennagels getrieben hatte. Das umliegende Fleisch sah bereits übel entzündet aus. Er hielt den Daumen einen Moment lang unter heißes Wasser und sah sich dann nach einer Pinzette um. Gelegentlich hatte ein Darsteller so etwas bei sich, um falsche Wimpern, Haarteile oder Augenbrauen anzulegen. Aber er hatte keinen Erfolg. Er versuchte es an der nächsten Tür, klopfte aber vorher an.

»Oh...«, entfuhr es Rosa. »Du armes Lämmchen. Ich habe eine Pinzette. Warte mal.« Sie kramte in ihrer Kiste. »Hast du irgend etwas draufgetan?«

»Nein, ich hab’ den Daumen bloß unter Wasser gehalten.«

»Da ist sie ja.« Rosa hielt eine Pinzette hoch, die mit Schminkfarbe beschmiert war. »Sehen wir uns das doch mal näher an.«

Nicholas streckte ihr seinen Daumen entgegen, während er dem chirurgischen Eingriff mit einiger Unruhe entgegensah. »Sollten wir sie vorher nicht sterilisieren oder so was?«

»Gütiger Himmel, Nicholas. Wenn du Schauspieler werden willst, mußt du lernen, so etwas wegzustecken.«

Nicholas, der partout nicht einsah, warum die Bereitschaft, eine Blutvergiftung davonzutragen, eine notwendige Qualifikation für einen jungen Schauspieler wäre, sträubte sich gegen diese grobe Behauptung.

»Da.« Rosa zog mit überraschender Sanftheit den Splitter heraus, wühlte dann in ihrer Handtasche herum, holte ein schmuddeliges, rosafarbenes Pflaster heraus und schälte die durchsichtige Schutzschicht ab. »Sag mal, wie ist dir denn das überhaupt zugestoßen?« Nicholas erzählte es ihr. »Ohhh... du übertreibst aber.«

»Nein. Er wollte wirklich auf meine Halsschlagader losgehen.« Aber schon während er die Worte hervorbrachte, wurde sich Nicholas bewußt, daß sich diese Überzeugung bereits abschwächte. Die gemütliche, völlig normale Atmosphäre in der Garderobe und die Tatsache, daß niemand von den Kulissen aus etwas gesehen hatte, riefen das Gefühl in ihm wach, seine Erinnerung entspräche nicht ganz der Wahrheit. Aber da gab es etwas, das absolut wahr und sehr real gewesen war. Nicholas sagte: »Und Kitty hat er geschüttelt, als wollte er ihr das Lebenslicht ausblasen.«

»Ach, wirklich?« Rosa lächelte und legte das Pflaster extra sanft um den Daumen ihres Kollegen. »Was für ein ungezogener Junge.«

Nicholas setzte sehr richtig voraus, daß dieser Ausruf eher Esslyn galt als ihm, obwohl er Nicholas unter diesen Umständen reichlich untertrieben zu sein schien. »Ich nehme an, er ist dahintergekommen«, fuhr Rosa mit sanfter Stimme fort, »daß sie eine Affäre hat.«

»Verdammt noch mal! Woher weißt du das denn?«

»Das weiß doch jeder, mein Liebling.«

Nicholas schwamm in Schuldgefühlen, als er dasaß und seine pochende Hand betrachtete. Es war alles seine Schuld. Hätte er Avery und Tim nichts gesagt, dann wäre es nie herausgekommen. Soviel zu Averys Versprechen. Und nach allem, was er wußte, war Tim ebenfalls eine Plaudertasche. Da war einer so schlimm wie der andere. »Diese zwei alten Gerüchteköche.«

»Wie bitte?«

»Tim und Avery.«

»Also wirklich, Liebling«, fuhr Rosa fort, »wenn du derart über Schwule denkst, dann hast du dir den falschen Beruf ausgesucht. Schließlich gibt es in jeder Truppe mindestens einen davon.«

Nicholas starrte sie ärgerlich an, und für das Pflaster war er ihr jetzt auch nicht mehr dankbar. Wie konnte sie wissen, daß es in jeder Truppe einen davon gab? In ihrem Morgenmantel aus Nylon mit dem Kragen aus kirschroten Straußenfedern. Sie spielte die weibliche Hauptrolle, wärmte permanent alte Kamellen aus vergangenen Vorstellungen auf und schleppte die Fetzen eines unechten Ruhms hinter sich her, der so falsch und flitternd war wie das Lametta vom vergangenen Jahr. Das Latimer, dachte Nicholas wütend, ist der perfekte Ort für sie, mit all diesen Blendern und Ehemaligen und Versagern und mit all dem toten Ballast. Er hatte die früheren Freundlichkeiten total verdrängt, was ihm im Moment gut in den Kram paßte. Die Geduld und die Ermutigungen gegenüber einem Anfänger, der nicht einmal den Unterschied zwischen einem Krallenhammer und einem Hosenlatz kannte. Die Unterstützung und die angebotene Bleibe, als er sein Zuhause verließ. Er wußte nur noch, daß er die Nase von diesem ganzen narzißtischen Haufen gestrichen voll hatte. Er sprang auf und sah Rosa an.

»Ich gehe jetzt wieder, um mir das Ende anzusehen. Kommst du mit?«

»Ich glaube nicht, mein Engel«, antwortete Rosa und klimperte mit ihren unechten Wimpern, die von Tusche verklebt waren. »Ich habe das alles schon einmal gesehen.«

In den Kulissen hatten sich die Darsteller für den Vorhang versammelt. Nicholas, der letzte in der Schlange (Esslyn war bereits in situ), schloß auf Kaiser Joseph auf und bemerkte: »Was für eine Premiere.«

»Der Flirt geht in Schönbrunn weiter, mein Süßer.«

David Smy ging mit seinem Kammerdienertablett, auf dem sich das Rasiermesser, die Holzschale mit der Seife, ein gefaltetes Handtuch und eine Porzellantasse befanden, aus der Dampf aufstieg, an ihnen vorbei. Einer der Bühnenarbeiter schob Salieris Rollstuhl, und David folgte ihnen. Er setzte sein Tablett auf dem kleinen runden Tisch ab, nahm den Letzten Willen seines Herrn, seinen Anweisungen entsprechend, entgegen und zog sich damit auf den hinteren Teil der Bühne zurück, um seine Unterschrift zu ändern. Salieri nahm das Messer, trat in das Rampenlicht am vorderen Bühnenrand und wandte sich direkt und voller Leidenschaft an das Publikum.

»Amid cari. Ich wurde als ein Paar Ohren geboren. Nur durch das Hören von Musik weiß ich, daß Gott existiert. Nur durch das Schreiben von Musik kann ich ihm dienen...«

In den Kulissen machte sich Joyce bereit, nach vorn zu gehen. Hinter ihr bereiteten sich die Venticellis auf ihren letzten Auftritt vor.

»...Um zu gehören... zu gehorchen... erschöpft zu werden von dem einen Absoluten... Und mit all seiner Bedeutung...«

Maureen Troy, die nicht wirklich traurig darüber war, daß das Stück nun bald zu Ende sein würde, konnte sich dennoch eines Anflugs des Bedauerns nicht erwehren, denn sie war ganz entschieden begeistert von diesem Kerl, der den Spaghettifresser spielte. Genau ihr Typ. Groß, dunkel und gutaussehend und alt genug, um eine erwachsene Tochter in der Besetzung zu haben, falls Maureen ihrem Programmheft Glauben schenken durfte. Vielleicht würde dieser Abend doch nicht ganz umsonst gewesen sein. Die Blicke, die ihr Ehemann in Cully Barnabys Richtung schweifen ließ, waren nicht unbemerkt geblieben, und was er konnte, das konnte sie schon lange. Vielleicht war es möglich, sich hintenherum eine Einladung zu ergattern und ihm dabei persönlich näherzukommen.

»...Nun werde ich zum Schatten meiner selbst. Ich werde im Dunkeln stehen, wenn du wieder auf diese Erde zurückkehrst...«

Cully dagegen war von Mozart beeindruckt. Offensichtlich hatte er kaum Bühnenerfahrung. Doch obwohl er etwas verwirrt wirkte, hatte er eine kraftvolle und sehr sensible Vorstellung mit einem Anflug von echtem Pathos gegeben. Sie ertappte sich dabei, daß sie über diesen Schauspieler nachdachte. Wie alt er wohl sein mochte? Wie ernst er das Theater nahm?«