Im Vereinsraum versuchte Dierdre ihren Vater dazu zu überreden, daß er einen Kaffee trank. Nachdem Colin den Vorhang heruntergelassen hatte, war sie direkt durch den Gang zu ihm gerannt und hatte ihn mit starren Augen und wild gestikulierenden Händen vorgefunden. Auch seine Beine zitterten und zuckten, und seine Füße trommelten auf den Boden wie die Hufe eines galoppierenden Pferdes. Die Menschen, die neben ihm saßen, ignorierten ihn entweder, sahen ihn mitfühlend an oder brachen, wie die Teenager in derselben Reihe, in ein schallendes Gelächter aus. Dierdre, der vor Mitleid Tränen über die immer noch blassen Wangen liefen, schaffte es, ihn soweit zu beruhigen, daß er nicht mehr zappelte. Nun rüttelte und schüttelte allerdings sein Mund, und der Kaffee ergoß sich über das ganze Sofa. Dierdre redete ruhig und besänftigend auf ihn ein, während er über ihre Schulter ins Leere starrte. Er hatte gerade angefangen, ein tonloses brummendes Geräusch von sich zu geben, als sich die Tür öffnete und ein junger Mann mit kurzem rotem Haar und einem scharfgeschnittenen schmalen Gesicht hereinkam. Er trug eine sportliche Jacke, und seine Hose war mit furchtbaren Flecken beschmutzt.
»Sind Sie Mrs. Tibbs? Der Chef möchte Sie sprechen.«
»Tut mir leid«, erwiderte Dierdre. »Ich glaube nicht, daß ich meinen Vater allein lassen kann.«
»Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, Miß.«
»Oh.« Dierdre stand zögernd auf. Sie fragte sich, ob sie mit ihm nicht auch im Vereinsraum reden könnte, aber dann begriff sie, wie dumm diese Idee war. Das Letzte, was sie wollte, nachdem sich ihr Vater gerade etwas beruhigt hatte, waren Fragen, die ihm möglicherweise den Höhepunkt des Stücks ins Gedächtnis zurückrufen würden.
»Könnten Sie... vielleicht bei ihm bleiben?«
»Tut mir leid.« Troy hielt ihr die Tür auf und fügte flink hinzu: »Der schafft das schon. Sie werden sehen.« Er schloß die Tür und führte sie die Treppe hinunter.
Dierdre fühlte sich etwas besser, als sie die Damengarderobe betrat und feststellte, daß der Chefinspektor Tom war. Sie fragte ihn, ob es lange dauern würde, denn sie machte sich Sorgen, ob sie ihren Vater in diesem Zustand allein lassen konnte.
»Nicht länger als unbedingt nötig, Dierdre. Je schneller wir die Sache hinter uns bringen, desto besser. Ich bin sicher, Sie wollen uns helfen, soweit Sie das können.«
»Oh... natürlich will ich das, Tom. Aber ich verstehe nicht, wie so etwas überhaupt geschehen konnte. Bei den Proben hat es doch perfekt funktioniert.«
»Wann haben Sie die Requisiten heute abend überprüft?«
»Kurz vor halb. Etwa um zwanzig nach sieben, glaube ich.«
»Und das Klebeband war an seiner Stelle?«
»Natürlich. Sonst hätte ich es ja...« Sie unterbrach sich, und ihre Augen weiteten sich. »O mein Gott... Sie meinen doch nicht etwa...?« Ihr Blick war eine Mischung aus Schrecken und Fassungslosigkeit. »Sie können doch nicht...«
»Was ist Ihrer Meinung nach passiert?«
»Nun ja... ich könnte mir denken, die Klinge hat sich durchgedrückt. Oder der Tesafilm ist zerrissen.«
»Ich fürchte, so verhält es sich nicht. Es ist komplett entfernt worden.«
Dierdre stöhnte erneut »mein Gott« und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Nach einer Weile blickte sie auf und fragte: »Wer auf Erden könnte so etwas Schlimmes tun?«
Barnaby gab ihr noch einen Moment und erkundigte sich dann: »Wo ist das Tablett mit dem Rasiermesser aufbewahrt worden?«
»Auf dem Requisitentisch. Hinten, damit es nicht im Weg ist. Sehen Sie, es wird ja nur einmal gebraucht. Ganz am Ende.«
»Und in den Kulissen ist es ziemlich dunkel?«
»Ja, gewiß. Etwas Licht fällt natürlich von der Bühne herein, obwohl die Kulissen ziemlich viel schlucken. Deshalb habe ich auch eine Klemmlampe in meiner Ecke. Für das Band und die Beleuchtungs-Stichworte. Na ja, heute mußte ich ja keine geben. Tim hat alles so gemacht, wie es ihm gerade in den Kram gepaßt hat. Er hat das schon seit Jahren angedroht, aber niemand hat geglaubt, daß er es einmal verwirklichen würde.«
»Haben Sie gesehen, ob jemand das Tablett berührt oder sich während der Premiere daran zu schaffen gemacht hat?« Dierdre schüttelte den Kopf. »Oder ist vielleicht jemand in dieser Ecke herumgeschlichen, der da nichts zu suchen hatte?«
»Nein. Aber wenn, dann hätte ich es auch nicht bemerkt, Tom. Amadeus hat fast dreißig Szenen. Wir haben nicht eine Sekunde Zeit zum Nachdenken. Oh, natürlich war Kitty da. Und Nicholas. Nach seinem letzten Auftritt hat er eine Minute lang hier gesessen.«
»Erzählen Sie mir zuerst von Kitty.«
»Nun... Sie müssen doch selbst gesehen haben, was im zweiten Akt geschehen ist. Ich weiß nicht, wie es von vorn ausgesehen hat...«
»Ziemlich wild.«
»Ich wollte die ganze Sache stoppen, aber Colin war damit nicht einverstanden. Als Kitty herausgekommen ist, konnte sie kaum noch stehen. Ich habe ihr einen Stuhl genau an diesem Tisch hier angeboten.« Als sie bemerkte, daß Barnabys Gesicht intensive Aufmerksamkeit zeigte, fügte Dierdre rasch hinzu: »Aber sie ist nicht dort sitzen geblieben. Ich bin in die Garderobe runtergegangen, um etwas zu trinken und Aspirin zu holen...«
»Wissen Sie, wie lange Sie fort waren?«
»Einige Minuten. Erst konnte ich das Aspirin nicht finden... dann bekam ich den Deckel nicht auf... und schließlich mußte ich auch noch eine Tasse abspülen. Am Ende bin ich völlig in Panik geraten. Sie können sich das sicher vorstellen.« Barnaby nickte; er konnte es sich nur zu gut vorstellen. »Als ich zurückkam, war Kitty verschwunden, und ich habe sie dann in der Toilette gefunden.«
»Wie hat sie auf das reagiert, was geschehen ist?«
»Sie war furchtbar wütend. Rasend. Sie... nun, sie hat Flüche ausgestoßen. Und dann hat sie gedroht: >Wenn er mich noch einmal anrührt...<« Dierdre schwieg. Sie sah sich in dem Raum um, sah die Flaschen und Flakons und die hübschen Blumensträuße, die Glückwunschkarte, auf der gerade eine schwarze Katze herumturnte, die ganz offensichtlich nicht begriffen hatte, wofür die Karte eigentlich gut war.
»Entschuldige, Tom, aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was sie danach gesagt hat.«
»Dierdre.« Dierdre nahm Blickkontakt zu einer Kaffeekanne, einer Süßstoffdose und einem Behälter mit Milchpulver auf.
»Sehen Sie, mich an.«
Sie schaffte es, ihn mit einem kurzen, ängstlichen, nahezu flehenden Blick anzusehen. »Der Fall, in dem wir ermitteln, geht weit über einen Streich hinaus.«
»...Ja...«
»Also, was hat Mrs. Carmichael gesagt?«
Dierdre schluckte und holte tief Luft. »>Wenn er mich noch einmal anfaßt...<« Der Rest des Satzes war leiser als ein Flüstern.
»Sprechen Sie lauter.«
»>Dann bring’ ich ihn um.< Aber das hat sie nicht so gemeint.« Dierdre sprach in Windeseile weiter. »Ich weiß, daß sie es nicht so gemeint hat. Leute sagen das doch immer mal wieder, nicht wahr? Mütter draußen auf der Straße zu ihren Kindern. Man hört das doch überall. Es hat nichts zu bedeuten, Tom. Und vielleicht hatte sie auch bloß Angst um ihr Baby. Sie ist schließlich ganz schön fest gegen den Proszeniumsbogen geknallt.«
»Wohin ist sie gegangen, nachdem sie die Toilette verlassen hatte?«
»Zurück in die Kulissen. Joyce stand schon da, um ihr das Polster umzulegen. Und ich bin ihr gefolgt. Sie ist noch nicht einmal in die Nähe des Tisches gekommen. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Haben Sie eine Ahnung, weshalb Esslyn sich so aufgeführt hat?«
»Nein - ich kann es nicht verstehen. Er war bis zur Pause völlig in Ordnung.«
»Sind Ihnen nicht vielleicht irgendwelche Gerüchte zu Ohren gekommen?«