»Gerüchte? Worüber?«
»Vielleicht... über einen anderen Mann.«
»O nein, das glaube ich nicht. Sehen Sie, Kitty ist doch schwanger.«
Es würde gewiß nicht das letzte Stelldichein mit Familie Tibbs heute nacht sein, dachte Sergeant Troy und legte seinen Kugelschreiber auf den Schreibblock, den er sich von dem Wachtmeister geliehen hatte, der draußen vor der Tür postiert war. Erst trällert der alte Trottel da oben sein verrücktes Lied, daß man es durch die halbe Länge der Delilah Street hören kann, und nun ist da auch noch seine dickärschige Tochter, die allem Anschein nach zu glauben scheint, daß frau, wenn sie schwanger ist, ein Schild ZUTRITT VERBOTEN um den Hals hängen hat. Tatsächlich war das, wie Troy aus seiner Zeit als Schürzenjäger wußte, die einzige Phase, in der man bedenkenlos Hof halten konnte, ohne Gefahr zu laufen, jemals die Rechnung begleichen zu müssen. Er bedeckte den Mund mit seinem Handrücken, um einen unfreiwilligen Anflug von Spott zu verbergen.
»Haben Sie jetzt, wo Sie wissen, daß das Band absichtlich entfernt worden ist, eine Ahnung, wer das getan haben könnte?« Dierdres Züge schienen sich in die Mitte ihres Gesichts zu verlagern, denn sie war sichtlich bemüht, sich zu konzentrieren. Barnaby fügte hinzu: »Lassen Sie sich Zeit.«
»Ich kann im Augenblick überhaupt nicht denken, Tom. Dieses Risiko... es war nun mal so scharf, dieses Messer.«
Plötzlich sah sie Davids Finger vor sich, die schnell und geschickt die Klinge umwickelten.
»Was ist los?«
»Nichts.« Ehe er etwas sagen konnte, plapperte Dierdre einfach drauflos. »Ich meine - es war so gefährlich, das kann man nicht im Dunkeln machen. Die Kulissen und die Bühne waren zwar hell erleuchtet, als sich der Vorhang hob, aber zu diesem Zeitpunkt konnte keiner an dem Messer rumgefummelt haben, weil die Gefahr einfach zu groß war, daß er dabei beobachtet worden wäre.«
»Wer ist denn heute als erster nach Ihnen hier angekommen?«
»Colin und David.«
»Haben Sie ihnen erzählt, daß Sie alles überprüft haben?«
»Ich habe es Colin mitgeteilt.«
»Aber wenn die beiden gemeinsam angekommen sind, dann heißt das doch, daß Sie es beiden erzählt haben.« Dierdre dachte inzwischen an die Sache mit dem Milchpulver. »Können Sie sich noch daran erinnern, wer danach gekommen ist?«
»Nicht genau, Tom. Ein halbes Dutzend Leute traf gemeinsam ein. Rosa und die Everards... und Boris. Die Bühnenarbeiter waren um halb da.«
»Hat Sie denn noch jemand gefragt, ob Sie schon alles überprüft haben?«
Barnaby wußte, daß diese Frage ziemlich vergeblich sein würde. Das Letzte, was eine Person täte, die an der Klinge herumdoktern wollte, war, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dennoch hatte er das Gefühl, diese Frage stellen zu müssen.
Dierdre schüttelte den Kopf. »Haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt den Bereich der Bühne verlassen?«
»Ja. Ich bin in die Garderoben gegangen, um allen mitzuteilen, daß es in einer Viertelstunde losgeht. Dann habe ich meine Assistenten im Vereinsraum aufgegabelt und bin losgezogen, um meinen Vater abzuholen. Das war um kurz vor acht. Er hatte sich verspätet.« Das erinnerte sie an etwas, und sie erhob sich mit den Worten: »Ist das alles, Tom? Wissen Sie, er wartet...«
»Einen Moment noch.« Widerstrebend setzte sich Dierdre wieder. »Mochten Sie Esslyn eigentlich, Dierdre?«
Sie zögerte einen Moment, und dann antwortete sie: »Nein.«
»Haben Sie eine Idee, wer es getan haben könnte?«
Diesmal gab es kein Zögern. »Absolut nicht, Tom. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, daß irgend jemand ihn mochte, aber deshalb tötet man ja nicht gleich einen Menschen, oder etwa doch?«
Diese Frage war nicht leichtfertig gestellt worden. Sie wurde mit einem derart intensiven Flehen hervorgebracht, daß es so schien, als wollte Dierdre Trost darin finden, daß die Polizei sich eine schreckliche Fehlkonstruktion zurechtgelegt hatte. Sie schien es so hinstellen zu wollen, als hätte sich der Tesafilm aus eigenem Antrieb davongemacht.
Barnaby kam nicht dazu, eine alles andere als tröstliche Antwort zu geben. Denn jemand klopfte an die Tür, und der Wachtmeister, der über die Leiche gewacht hatte, streckte den Kopf herein und meldete: »Doktor Bullard ist jetzt da, Sir.«
Inzwischen hatte sich die Truppe nebenan in der Werkstatt, obwohl immer noch geschockt, allmählich wieder etwas erholt. Natürlich einige mehr als andere. Gedämpftes Flüstern wurde zusammen mit bedeutsamen Blicken und ehrfürchtigem Kopfschütteln ausgetauscht. Außerdem diskutierte man jetzt Ideen und Vermutungen, wobei über allem eine irgendwie zurückhaltende Feierlichkeit lag, mit der man wohl den Respekt vor Kittys Schmerz bekunden wollte.
Nicht, daß bei ihr viel davon zu erkennen gewesen wäre. Sie saß auf einer Werkbank, starrte Rosa an und stampfte mit dem Fuß ärgerlich auf den Boden. Die erste Mrs. Carmichael weinte dagegen hemmungslos mit offenem und verzerrtem Mund. Ihre Schminke war derart zerflossen, daß sie aussah wie ein Sonnenuntergang von Turner. Man hätte meinen können, daß nicht Kitty, sondern sie die Witwe wäre, wie Clive etwas abseits Donald zuflüsterte. Ernest, der schon mit den anderen aus dem Publikum nach Hause hätte gehen können, blieb an ihrer Seite. Joyce, die ihre blutdurchtränkten Kleider zusammen mit Cullys ruiniertem Kostüm hinter einer Leinwand verborgen hatte, saß im Mantel ihres Mannes da und hielt die Hand ihrer Tochter. Cully war in einige Meter butterfarbene Musseline eingewickelt, die sie in einem Abstellraum gefunden hatte. Nicholas, der den Blick nicht von ihr abwenden konnte, fand, sie sähe aus wie die köstliche Wiedergeburt der Nofretete.
Sie alle waren rasch und effektiv überprüft worden, und obwohl die Abwicklung auch nicht unpersönlicher als auf einem Flughafen verlaufen war, hatte Harold Anstoß daran genommen und damit gedroht, sich an seinen Parlamentsabgeordneten zu wenden.
»Wenn ein Mann dumm genug ist, sich selbst die Kehle durchzuschneiden«, hatte er herablassend geschrien, »weiß ich wirklich nicht, was zum Teufel sich die Polizei davon verspricht, meinen Leuten diese demütigende Prozedur zuzumuten!«
Keinem seiner Leute machte es wirklich etwas aus, aber dennoch waren sie alle gleichermaßen verwundert über die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme.
»Ich weiß wirklich nicht«, wunderte sich Bill Last (wie auch später van Swieten), »wieso sie die Herrengarderobe abgeschlossen haben. Da sind schließlich meine Autoschlüssel drin. Und meine Brieftasche. Alles.«
»Genau«, stimmte Boris zu, der Kettenraucher war und nach einer Zigarette lechzte.
»Ich verstehe auch nicht, wieso sie mit uns allen sprechen wollen«, beschwerte sich Clive Everard. »Wir sind doch nicht für die Requisiten verantwortlich. Es ist ganz offensichtlich Dierdres Fehler. Die hat das Band aus irgendeinem Grund abgerissen. Und dann vergessen, ein neues drumzuwickeln.«
»Typisch«, meinte sein Bruder.
»Das ist absolut nicht typisch«, wandte David Smy ärgerlich ein. »Dierdre ist sehr fähig.«
»Hört, hört«, ließ Nicholas verlauten.
Kitty, die gesehen hatte, daß Dierdre von Troy begleitet worden war, bemerkte: »Ich finde, sie ist schon ziemlich lange da drin. Ich würde sagen, es sieht echt vielversprechend aus.«
»Wie kannst du nur so etwas Gemeines sagen«, protestierte Avery. »Ehrlich. Ich dachte, Notzeiten sollen das Beste in uns hervorbringen.«
»Du kannst nun mal nichts hervorbringen, was nicht drin ist«, sagte einer der Everards.
»Miststück«, schimpfte Kitty.
Bis auf einen wurden alle von demselben Gedanken erfaßt. Es wäre sehr schön gewesen, wenn Dierdre einfach nur unvorsichtig gewesen wäre. Dann hätte sich das Problem erledigt. Und noch dazu auf eine nicht allzu unbequeme Weise. Ziemlich nett und angenehm. Sie könnten sich dann einfach alle umziehen und nach Hause gehen.