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Aber so sollte es nicht kommen. Harold, der sich immer noch nicht mit seiner Einkerkerung abgefunden hatte und vor maßloser Selbstüberschätzung kochte, kam herein. »Ich habe gerade mit diesem uniformierten Schwachkopf im Foyer gesprochen«, begann er, »und ihn gefragt, warum wir alle in dieser tyrannischen Weise behandelt werden und uns der Zutritt zum größten Teil des Theaters verboten ist. Er war total unfreundlich, murmelte etwas von Tatortsicherung in einem solchen Fall, und als ich nachgehakt habe: >In was für einem Fall?< meinte er lapidar, ich sollte darüber mit seinem Chef reden. >Leichter gesagt als getan, guter Mann<, habe ich entgegnet. >Tom ist im Moment auf der Bühne<, antwortete er, und blickte dabei anklagend die Frau des Inspektors an. Er ist mit so einem unbekannten Typen da, der den wundervollen blauen Brokatmantel aufschneidet - ihn in Stücke schneidet. Ihr könnt euch sicher vorstellen, was für eine Rechnung ich denen dafür und für das verdreckte Kostüm von Joyce ins Haus schicken werde.«

»Das ist nun mal Showgeschäft«, murmelte Tim. »Es beginnt mit Mozart und endet noch am selben Abend mit der Götterdämmerung.«

»Und als ich Tom gefragt habe, was er sich überhaupt einbildet, hat er bloß gesagt, ich soll mich in die Werkstatt setzen und gemeinsam mit den anderen warten. Und irgendein widerlicher Rothaariger hat mich praktisch gewaltsam die Treppe hinuntergestoßen. Wenn es etwas gibt, was ich nicht leiden kann, dann sind das Handgreiflichkeiten.«

Harold sah in die Runde ratloser Gesichter und stellte zu seinem Entsetzen fest, daß sich auf einem Gesicht eine bemerkenswert unkontrollierte Farbmischung abzeichnete. »Und was zum Teufel«, schloß er, »ist nur mit Rosa los?«

Über ihren Köpfen kroch Jim Bullard neben der Leiche herum, betrachtete sie, wie er das schon mehrere Male zuvor getan hatte, und richtete sich dann ein wenig auf.

»Mm... gut... die Todesursache ist eindeutig genug. Dafür braucht man keinen Pathologen.«

»Genau.«

»Eine außergewöhnliche Angelegenheit. Sich vor einem vollen Theater die Kehle durchzuschneiden. Ich weiß ja, daß Schauspieler Exhibitionisten sind, aber ich hätte doch geglaubt, es gäbe da gewisse Grenzen. Der Zeitpunkt des Todes steht auch fest. Hatte er irgend etwas eingeworfen?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Nun ja, das wird die Obduktion ergeben. In Ordnung.« Er erhob sich, klopfte den Staub von seinen Knien und packte seine Tasche. »Ihr könnt ihn wegbringen.«

»Ich brauche dringend ein paar Leute von der Spurensicherung. Aber Davidson ist bei seinem Freimaureressen. Fenton ist auf den Seychellen...«

»Ach?« Dr. Bullard sah ihn forschend an. »Dann ist es also doch nicht so eindeutig, wie es aussieht? Ich wünsche Ihnen Glück.«

»Ehe Sie gehen, Jim, würde ich Sie gern noch bitten, nach Mr. Tibbs zu sehen. Das ist der Vater des Mädchens, das gerade hier vorbeigegangen ist. Er sitzt oben im Vereinsraum.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist geisteskrank. Ich glaube, was heute abend geschehen ist, könnte... nun ja... es hat ihm nicht gerade gutgetan. Er hat sehr verstört gewirkt.«

»Das mache ich, Tom, aber ich habe nichts dabei, was ich ihm geben könnte. Du solltest dich besser mit seinem... mein Gott! Was ist denn das?«

Ein gellender Schrei aus Verzweiflung und Jammer, dann schnelle Schritte, und sie sahen Dierdre durch die offenen Türen oben im Gang vorbeirennen und im Foyer verschwinden. Draußen regnete es immer noch. Gefrorene Nadeln aus Regen, die sich durch die wärmste Kleidung bohren konnten und erst recht durch ein dünnes Sommerhemd und eine Baumwollhose. (Er hatte sein Leinenjackett zurückgelassen.) Dierdre trug es auf dem Arm, als sie blindlings ins Erdgeschoß rannte und dort mit einem jungen Polizisten zusammenstieß, der zwar einen Umhang und einen Helm trug, aber trotzdem bei Ausübung seiner Pflicht reichlich durchnäßt worden war. Er packte ihren Arm.

»Entschuldigung, aber hier darf keiner raus...«

»Tom ist doch mit mir fertig. Tom, der Chefinspektor, meine ich. Haben Sie einen alten Mann gesehen?« Eine kleine Menschenmenge stand auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig unter einer Traube schimmernder Regenschirme und sog jedes Zeichen von Aktivität gierig in sich auf. »Er hat weißes Haar... bitte...« Sie schlug verzweifelt auf den Wachtmeister ein, und der Regen und ihre Tränen vermischten sich auf ihren Wangen. »Er ist krank.«

»Der ist vor ein paar Minuten an mir vorbeigelaufen, in einem Affentempo. Ohne Mantel oder sonstwas.«

»O Gott.«

»Er ist die Carradine Road raufgerannt. Warten Sie, warten Sie hier, ich werde...«

Aber er sprach in die Nachtluft, denn Dierdre war schon losgesprintet. Einen Moment später sah er sie über den nassen Fußgängerüberweg laufen. Ihre Kleidung war bereits durchnäßt, und in ihrem Gesicht spiegelte sich die grüne Farbe der Verkehrsampel. Dann war sie verschwunden.

Als nächstes wurde Rosa befragt. Ernest begleitete sie bis an die Garderobentür, und sowie sie Barnaby sah, wurde sie vor Aufregung knallrot.

»Sie können mich alles fragen, Tom!« schrie sie los, und in ihrer Stimme lag bei allem Mut auch eine Spur von Schmerz. »Alles, was Sie wollen.«

»Danke«, entgegnete der Chefinspektor, der genau das vorhatte. »Kennen Sie jemanden, der Ihrem Ex-Mann irgend' etwas antun wollte?«

»Nein«, antwortete Rosa prompt. Aber der Blick, der folgte, zeigte, daß die Geschwindigkeit, mit der ihr Gesprächspartner zur Sache gekommen war, durchaus Wirkung gezeigt hatte. »Alle mochten Esslyn.«

Barnaby zog die dichten Augenbrauen hoch. In seinen Augen spiegelte sich ein zynischer und gleichzeitig belustigter Glanz, der zeigte, daß er sehr wohl verstand, wie sie das gemeint hatte, aber sie nun doch bitten würde, die Beisetzungsfeierlichkeiten für den Moment stecken zu lassen und endlich zur Wahrheit zu kommen.

»Das heißt«, fuhr Rosa deshalb auch fort, die das Angebot sehr wohl wahrnahm, »im großen und ganzen. Natürlich war er schrecklich unglücklich.«

»Ach?«

»Sehen Sie, Kitty.« Sie warf ihm einen zweideutigen und verschlagenen Blick zu, so als gestünde sie klammheimlich ein, daß Kitty schuldig war. »Eine Zweckehe ist niemals ein guter Anfang, nicht wahr? Und natürlich hat sie angefangen, ihre Spielchen mit anderen zu treiben, nachdem si6 ihn sich geangelt hatte.«

»Mit wem?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ich verstehe.«

»David Smy.«

»Grundgütiger.«

»Natürlich könnte das auch bloß ein Gerücht sein.«

»War es denn Esslyns Kind?«

»Davon sind wir alle ausgegangen.« Die Betonung der Worte war wundervoll gewählt. »Armes Kleines.«

Barnaby änderte seine Taktik und schlug nun einen wesentlich härteren Tonfall an.

»Wie haben Sie sich nach Ihrer Scheidung gefühlt, Rosa?«

Rosa ließ jede Pose von sich abfallen. Ihr nacktes Gesicht erschien ungeschminkt unter der aufgewühlten Gesichtsfarbe. Sie wirkte besorgt. Und älter. »Ich... ich weiß wirklich nicht... was das... was das damit zu tun hat, Tom.« Sie holte tief Luft und schien um Fassung zu ringen.

»Nur als Hintergrund.«

»Als Hintergrund für was?«

»Man kann nie wissen, wozu das einmal gut ist.«

Rosa zögerte, und ihre Federn zitterten. Barnaby wußte, daß er sie damit in eine Zwangslage gebracht hatte. Es handelte sich um eine unselige Konstellation, in die jede der befragten Personen bis zum Hals verwickelt war. Zum ersten Mal in seinem Berufsleben kannte er alle Personen, die in den Fall (denn daß es sich hier um einen Fall handelte, würde er ganz sicher beweisen können) verwickelt waren. Seine Frau war über die gegenwärtigen und vergangenen Affären sogar noch besser informiert als er. Was es ihm auch ermöglichen würde, trotz all der üblichen Täuschungsmanöver, Ausflüchte, Notlügen, echten Lügen, Halbwahrheiten und vorsätzlichen Andeutungen das gesamte Beziehungsgeflecht geschickt einzukreisen. Vorteil Barnaby. Zunächst einmal, wenigstens.