»Um ganz ehrlich zu sein, Tom...« Sie hielt inne und legte einen purpurroten Fingernagel gegen ihre Nase, als wollte sie ihre rasch wachsende Länge prüfen.
»... Sie haben recht...« Als sie das sagte, hörte sie sich fast erleichtert an. Sie schwieg eine Weile, dann begann sie zu sprechen, hielt wieder inne und fing von neuem an. Sie tastete sich behutsam voran. »Ich dachte, es würde verblassen... insbesondere, nachdem ich wieder geheiratet habe. Und Ernest ist so gut. Aber es ist geblieben... es hat mich aufgefressen... ich wollte ein Kind, verstehen Sie. Er hat das gewußt... und mir diesen Wunsch ausgeschlagen. Mich vom Gegenteil überzeugt. Und dann hat er Kitty ein Kind gemacht.«
Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit das Gesicht ab. »Aber das Erstaunliche daran ist, Tom, und das meine ich wirklich ernst - daß der Haß fort ist. Ist das nicht ungewöhnlich? Es ist so, als hätte jemand den Stöpsel herausgezogen und die Wut einfach abfließen lassen. Das scheint unmöglich, nicht wahr? Daß etwas derart Starkes, was dein ganzes Leben vergiftet hat, so einfach verschwinden kann. Wie durch Zauberhand.«
Nach einigen Momenten des Schweigens, in denen Barnaby Rosas hervorragendes Motiv für den Mord durchdachte, entschied er, daß sie gehen könne. Sie blieb einen Moment in der Tür stehen und sah trotz der billigen Pracht ihrer Robe und dem verschmierten Gesicht nicht wirklich lächerlich aus. Sie schien nach einer abschließenden Bemerkung zu suchen, vielleicht einer, mit der ihre vorherige Härte zu mildern war. Schließlich erklärte sie, fast so, als hätte die Erinnerung sie überrascht: »Wir waren früher beide einmal ^jung.«
Als nächstes befragte Barnaby Boris, der sich durch die Fragen drehte und wand, bis Sergeant Troy ihm aus purem Mitleid eine Benson’s Silk Cut anbot. Boris versicherte, daß er den ganzen Abend über niemanden an dem Rasiermesser gesehen hatte und sich auch nicht vorstellen könnte, wieso jemand Esslyn hätte töten wollen. Alle anderen Darsteller der Nebenrollen kamen und gingen und sagten dasselbe. Als diese schließlich die Werkstatt verlassen hatten, wurden sie von einem Wutschrei verfolgt, den Harold als Protest gegen diese unmögliche Verkehrung der natürlichen Hierarchie ausgestoßen hatte.
Ein Mann von der Spurensicherung erschien, gefolgt von Colin Davidson, der vorzeitig von seinem Festessen bei den Freimaurern geholt worden war. Nach einer Besprechung gingen sie an die Arbeit, wobei sie in der Herrengarderobe anfingen und diese schließlich freigaben. Cully brachte ihre Mutter nach Hause, Esslyn wurde zur städtischen Leichenhalle transportiert, und Barnaby ließ die Everards zu sich rufen.
Clive und Donald kamen hereinstolziert, und in ihren Augen spiegelte sich Vorfreude, gepaart mit einem guten Teil Häme. Sie waren immer noch geschminkt, und ihre pointillistische Gesichtsfarbe hatte das besondere Teerosenpink von altmodischen Korsetts. Barnaby hatte sich dazu entschlossen, sie gemeinsam zu befragen, weil er wußte, daß sie sich gegenseitig zu noch mehr Indiskretionen und pikanten Enthüllungen hochschaukeln würden. Jetzt putzten sie ihr Gefieder und flatterten wie zwei Hennen um die beiden Stühle herum, auf die sie sich erst setzten, nachdem sie ein paarmal um diese herumgelaufen waren. Sie starrten mit Knopfaugen Sergeant Troy und sein Notizbuch an, und er erwiderte hart und unnachgiebig ihren Blick.
Der Sergeant mochte Männer, die Männer waren, und Frauen, die darüber froh waren, daß es echte Männer gab. Dieses Paar hier konnte er nirgendwo einordnen. Er gab stets damit an, einen Schwulen kilometerweit riechen zu können, aber bei diesem speziellen Paar war er sich da nicht so sicher. Er kam zu dem Schluß, daß beide vielleicht in jungen Jahren kastriert worden waren, und als er sie zu seiner Befriedigung in eine Schublade gepackt hatte, hörte er Barnaby fragen, ob die Everards sich jemanden vorstellen könnten, der dem Toten etwas hätte antun wollen, dann schlug Troy in dem Notizblock die nächste Seite auf.
»Tja, Tom«, antwortete Clive Everard und holte sehr tief Luft, »um ehrlich zu sein, nähme es weniger Zeit in Anspruch, diejenigen aufzuzählen, die nichts gegen ihn hatten. Ich bezweifle, daß es in der Truppe auch nur einen einzigen Menschen gibt, der nicht irgendwann mal Krach mit Esslyn gehabt hätte und schlecht auf ihn zu sprechen gewesen wäre.«
»Könnten Sie etwas präziser werden?«
»Oh, wenn Sie es genau wissen wollen.« Sie tauschten Blicke funkelnden Spottes aus. »Warum fangen wir nicht einfach mit Dierdre an. Er hat diese wunderbare Geschichte in der Herrengarderobe erzählt...«
»... wirklich urkomisch...«
»Über ihren Vater...«
»Gelächter und Applaus...«
»Und plötzlich stand sie in der Tür. Sie muß gehört haben, wie Esslyn den alten Mann senil nannte...«
»Was er natürlich auch ist.«
»Aber glauben Sie etwa, sie würde das zugeben? Geistesabwesend ... verwirrt... orientierungslos... und arm...«
»Arm«, echote Donald. »Also, was wäre natürlicher, als daß sie sich selbst in den Rücken fiele? Hoppla... ein Freudscher Versprecher. Tut mir leid.« Er wirkte nicht besonders reumütig. Sein Lächeln war sogar geradezu strahlend, als er hinzufügte: »Und natürlich muß man sich fragen, wer eine bessere Gelegenheit gehabt hätte?«
»Dazu ist es gekommen, als sie die Viertelstunde angesagt hat?« fragte Barnaby und rief sich Dierdres aufgeregten Auftritt ins Gedächtnis, den er aus den Kulissen beobachtet hatte.
»Richtig. Wollen Sie die ganze Geschichte hören?« fragte Clive höflich.
»Nein«, sagte Barnaby. »Wer kommt sonst noch in Frage?« Dann, als sie seiner Meinung nach die Fülle an Möglichkeiten ausreichend genossen hatten, hakte er nach: «Was ist denn mit Nicholas?«
»Ahh... Sie haben also schon etwas über dieses kleine Mißgeschick heraus gekriegt. Nun... Esslyn war gerade dahintergekommen, daß sein kleines Kätzchen eine Affäre hatte.«
»Und ich fürchte«, murmelte Donald und beobachtete dabei mit verschlagenem Bedauern Sergeant Troy, »daß das unsere Schuld war.«
»Wir hätten uns einfach nicht träumen lassen, daß er So darauf reagiert.«
»Gott behüte.«
»Aber seine Selbstgefälligkeit war nun mal geradezu legendär.«
»Und unangreifbar.«
»Also«, fragte Barnaby, »mit wem soll sie nun eine Affäre gehabt haben?«
»Wir haben von Rosa gehört, die es von Boris hatte, der es von Avery wußte, dem wiederum Nicholas gesagt hat, daß David Smy die fragliche Person ist.«
»Und von wjem wußte es Nicholas?«
»Meine Güte - anscheinend hat er sie zusammen gesehen«, rief Donald. »Sie haben es in Tims Lichtkammer getrieben wie die Karnickel.«
Barnaby nahm an, daß schon befremdlichere Dinge geschehen sein mußten. Er hätte nicht geglaubt, daß Kitty, deren gewinnende Erscheinung, da war er sich sicher, nur eine Maske für ihre kleinliche, egoistische und falsche Natur war, sich den eher schweigsamen David ausgesucht hätte. Wenn man davon ausging, daß sie auf eine Veränderung aus war, hätte niemand einen größeren Gegensatz zu Esslyn darstellen können.
»Und weil er unser Freund war«, erklärte Donald mit einer salbungsvollen Windung, »waren wir der Meinung, er sollte es wissen.«
»Also haben wir es ihm erzählt.«
»Aber doch nicht etwa während der Aufführung?«
»Nun, Sie wissen doch, daß er ein alter Profi ist... war. Nichts konnte ihn erschüttern.« Die Frage nach dem genauen Zeitpunkt dieser Mitteilung erübrigte sich. Der zweite Akt hatte für sich selbst gesprochen. »Jedenfalls dachten wir das.«
»Aber, mein Gott - was für eine Wirkung!«
»Wir haben die Rechnung ohne sein Ego gemacht, wissen Sie. Er war wie Harold. Er hielt sich selbst für einen Prinzen ... oder gar für einen König. Und Kitty hat ihm gehört. Niemand anders war es erlaubt, sie anzufassen...«