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»Majestätsbeleidigung.«

»Er ist blaß geworden, nicht wahr, Clive?«

»Richtig weiß.«

»Und seine Augen haben Funken gesprüht. Es war wirklich gruselig. Als wären wir Boten in einem dieser griechischen Stücke.«

»Die eine schlechte Nachricht überbringen und dann nach draußen geschleppt werden, wo man ihnen die Eingeweide mit einer glühenden Gabel herausnimmt.«

»Er hat meinen Arm festgehalten - man sieht immer noch die blauen Flecken, schauen Sie mal...« Donald krempelte den Ärmel hoch. »Und er hat gefragt: Wer...?«

»Und ich habe erst in sein Gesicht gesehen, dann meinen Arm angeschaut und mir gedacht, nun ja, ich werde bestimmt nicht derjenige sein, der es ihm sagt.«

»Freundschaft kann auch zu weit gehen.«

»Absolut«, entgegnete Barnaby, der seine Übelkeit mühsam unterdrückte und ein ermutigendes Lächeln aufsetzte. »Also... ?«

»Also habe ich zu ihm gesagt«, fuhr Donald fort, »frag besser Nicholas. Und noch ehe ich weiterreden konnte...«

»... ehe einer von uns etwas sagen konnte.,.«

»...ist er davongerannt. Und ich hatte keine Gelegenheit mehr hinzuzufügen, daß er derjenige sei, der es weiß.«

»Und erst, als wir wieder in der Garderobe waren, ist uns klargeworden, daß Esslyn es in den falschen Hals gekriegt hat und glauben mußte, es sei Nico!«

»Und Sie hatten nicht das Gefühl, ihm damit zu schaden?«

»Da standen doch überall Leute herum, Tom.« Clive hörte sich empört, wenn nicht sogar beleidigt an. »Es sollte doch nicht gleich jeder wissen.«

Selbst Troy, der in seiner Rolle als Taschenträger derart passiv agierte, daß Verdächtige gelegentlich glaubten, er sei in eine Art Winterschlaf verfallen, wurde durch dieses erstaunliche Beispiel von Doppelbödigkeit zu einem verwunderten Lachen angeregt, das ihn beinahe umwarf. Die Everards drehten sich zu ihm um und musterten ihn argwöhnisch. Clive ergriff das Wort.

»Der schreibt das doch nicht etwa alles auf, oder?«

Dierdre rannte weiter. Und immer weiter. Es kam ihr vor, als liefe sie schon seit Stunden. Ihre Beine und Füße schmerzten, und der heftige Wind schlug ihr immer wieder triefend nasse Haarsträhnen über Augen und Mund. Ihr Hals fühlte sich entzündet an, und ihre Schleimhäute waren total verstopft. Sie schloß daraus, daß sie wohl weinte, aber da so viel Wasser ihre Wangen herunterlief, war es unmöglich, sicher zu sein. Das inzwischen nasse Jackett ihres Vaters, das sie immer noch über dem Arm trug, fühlte sich so schwer wie Blei an. Sie wischte sich zum hundertsten Mal die Haare aus dem Gesicht und stellte sich im Eingang der McAndrews-Apotheke unter. Das Herz veranstaltete Sprünge in ihrer Brust, und sie versuchte, tief und lang Luft zu holen, um es zu beruhigen. Das schaffte sie ein-oder zweimal, aber dann brach sie in tiefes Schluchzen aus, das ihren ganzen Körper erschütterte.

Sie ruhte sich zwischen den beiden Schaufenstern aus. Zu ihrer Linken stand ein Stapel von Papierwindeln und Tommy-Tippee-Zahnbechern, die auf einer Woge aus Styroporwürmern drapiert waren. Zu ihrer Rechten befand sich eine Auslage voller Korbflaschen, Dosen mit Weintraubenkonzentrat und Spiralen aus zitronenfarbenen Plastikrohren, die wie die Gedärme eines Roboters aussahen. (Sei dein eigener Qualitätsweinlieferant.)

Dierdre trat bis zum Rand der Treppe hinaus und blickte zum schwarzen, donnernden Himmel hinauf, der wie eine zarte Blume gewesen war, als sie das Haus verlassen hatte. Die Sterne, die sich niemals um das Wohl der Menschen kümmerten, waren heute besonders indifferent. Durch die Bäche, die an Dierdres Brillengläsern hinunterliefen, wurden die einzelnen Sterne erst verwischt und dann zu hart wirkenden Lanzen verlängert.

Sie war im Kreis gelaufen. Losgerannt war sie in der High Street, und dann hatte sie sich in konzentrischen Kreisen vorgearbeitet. Sie hatte in jeden Ladeneingang geschaut, war bei Adelaide’s und dem Jolly Cavalier gewesen, obwohl ein öffentliches Lokal der letzte Ort war, an dem sie erwartet hätte, ihren Vater vorzufinden. In beiden Kneipen wurde ihr zerzaustes Äußeres und ihr schnelles Verschwinden mit lautem Gelächter quittiert. Sie lief immer wieder durch das Viertel, weil sie Angst hatte, ihren Vater zu verpassen. Sie glaubte ihn, unterkühlt und bis auf die Haut durchnäßt, nur eine Straße weiter, hundert Meter hinter sich oder vielleicht sogar in einer Parallelstraße auf gleicher Höhe mit ihr, nur durch ein Haus oder dunkle Bäume für sie unsichtbar verborgen.

Sie war auch schon zweimal zu Hause gewesen und hatte in jedem Zimmer nachgesehen, sogar in der Gartenlaube. Beim zweiten Mal konnte sie nur schwer der Versuchung der immer noch glühenden Kohlen im Küchenofen widerstehen, die nassen Kleider auszuziehen, Tee zu machen und sich ein Weilchen vor das Feuer zu setzen. Aber schon wenige Minuten später zwangen sie ihre Liebe und die Verzweiflung, weiterzusuchen und wieder auf die Straße hinauszulaufen, obwohl sie Angst hatte, ihn nie wieder zu finden.

Jetzt stand sie da, die Hand gegen das pochende Herz gedrückt, und ihre Haut brannte infolge des prasselnden Regens; sie konnte keinen Schritt mehr gehen. Sie wußte nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte, quälte sich selbst mit Befürchtungen, daß ihr Vater irgendwo in der Gosse liegen konnte. Oder gegen eine Wand gerannt war. Es hätte nichts geholfen, jeden Rinnstein und jede Mauer abzusuchen, denn wenn er dort gewesen wäre, hätte sie ihn schon gefunden. Die Fähigkeit, logisch zu denken, war in dem Moment verschwunden, als sie in den Vereinsraum zurückgekehrt war, den leeren Stuhl gesehen hatte und in Panik geraten war. Sie preßte das Gesicht gegen das kalte Glas und starrte durch die Fensterscheibe.

Es ist eine Regel, daß die Umstände, die ein eintretendes Unglück begleiten, wie trivial oder unschuldig auch immer sie sein mögen, auf immer und ewig mit dem betreffenden Schicksalsschlag verknüpft bleiben. Bei Dierdre war es fortan so, daß sie bis zum Ende ihrer Tage niemals irgendeinen Artikel, der mit selbstgemachtem Wein in Verbindung stand, lesen konnte, ohne ein plötzlich anschwellendes Gefühl spontaner Angst zu verspüren. Ähnlich erging ihr es mit den Worten »Weißwein von der Loire«.

Noch einmal wandte sie ihr Gesicht gen Himmel. Dort oben ist Gott, dachte Dierdre. Gott mit den Augen, die alles sahen. Er mußte wissen, wo ihr Vater war. Er könnte sie dorthin führen, wenn er es denn wollte. Sie legte die Hände zusammen und stammelte ein Gebet aus Brocken von Kindheitsbeschwörungen: »Lieber Jesus... jetzt gehe ich schlafen ... ich vertraue dir... du wirst ihn nicht in Gefahr laufen lassen...« Die vor Kälte tauben Hände hatte sie in dringlichem Bitten aneinandergepreßt, als sie flehentlich den Blick zum Himmel hob.

Der Regen hörte auf, aber sonst änderte sich nichts, außer, daß die Nässe in der Luft die irisierenden Sterne noch ferner erscheinen ließ und der milchige Hof des Monds noch unmenschlicher strahlte. Auf einem von Dierdres Brillengläsern rann ein Bach seitlich hinab und verzerrte ihr Gesichtsfeld.

Sie rief sich die Jahre ins Gedächtnis zurück, in denen ihr Vater von frommer Hingabe erfaßt worden war. Sein schlichtes Vertrauen bestand in der Überzeugung, daß er vom Herrn geliebt, von diesem großen Gott bewacht und von ihm vor allem Übel beschützt wurde. Langsam bemächtigte sich Wut ihrer Adern, wärmte ihr Blut und schoß bis in die gefrorenen Fingerspitzen. War das etwa sein Lohn für jahrelange Hingabe? Es zu erlauben, daß er verrückt geworden war, dann ausgesetzt und allein gelassen, um wie ein armes, heimatloses Würstchen in dem heulenden Wind und dem Regen herumzuirren?

Als Dierdre mit noch nie gefühlter Heftigkeit in die scheinbar unendlichen Weiten des Weltalls blickte, überkam sie ein schrecklicher, ketzerischer Gedanke. Was war, wenn es dort überhaupt niemanden gab? Keinen Gott. Keinen Gabriel mit goldenen Fußabdrücken und vier Meter großen schützenden Flügeln. Sie schüttelte den Kopf (und ihre Haare flogen wie Rattenschwänze umher), so als wollte sie diese gotteslästerliche Unterstellung vertreiben, jedoch ohne Erfolg. Nachdem dieser Gedanke erst mal aufgetaucht war, bohrte er sich wie ein vergifteter Pfeil in ihr Gemüt und versprühte sein Gift aus Zweifel und Ungläubigkeit. Eine Woge der Wut rollte über sie hinweg. Dann stiegen Gefühle des Zorns in ihr auf, die sich direkt gegen Gott wandten, von dessen Existenz sie nicht mehr überzeugt war. Sie trat aus ihrem Unterstand auf den feuchten Bürgersteig und schwenkte die geballte Faust gen Himmel.