»Sagen Sie ihm«, empfahl Barnaby grinsend, »sagen Sie ihm, die Primadonna kommt immer zuletzt.«
Die beiden Männer von der Spurensicherung hatten sich durch die Kulissen vorgearbeitet und nahmen sich nun die Bühne vor. Um Zeit zu sparen, waren Colin und David Smy entlassen worden, und man hatte sie gebeten, am nächsten Morgen ins Revier zu kommen. Barnaby befragte Nicholas.
Er hatte den Jungen immer gemocht, und ihm wurde schnell klar, daß Nicholas das Dramatische dieser Situation genoß, sich aber gleichzeitig auch schämte, es auszukosten. Damit, dachte Barnaby, ist er im Ensemble bestimmt kein Einzelfall. Nachdem er sich wiederum versichert hatte, daß Nicholas weder von jemandem wußte, noch irgendwen gesehen hatte, der an der Klinge zugange gewesen war, fragte Barnaby, ob er sich einen Grund vorstellen könne, weshalb jemand Esslyn ans Leder wollte.
»Sie sind nie mit ihm zusammen aufgetreten, oder?« entgegnete Nicholas mit einem nervösen Lachen. Er war vor lauter Aufregung und Angst rot angelaufen.
»Ich muß Sie mit Nachdruck bitten, sich solche frechen Bemerkungen zu sparen«, entgegnete Barnaby streng. »Hier ist heute abend ein Mann gestorben.«
»Ja... natürlich. Tut mir leid, Tom. Es sind nur die Nerven ... der Schreck... vermute ich.«
»Was versetzt Sie denn so in Panik?«
»Nichts... nichts...«
Barnaby schwieg einen Moment und ließ seine ausdruckslosen Augen auf Nicholas ruhen. Dann wechselte er einen Blick mit Sergeant Troy, in dem alles zu lesen war. Nicholas, der ohnehin schon ein Bündel zitternder Besorgnis war, fühlte, wie sich seine Wirbelsäule in Gelee verwandelte.
Barnaby konnte nicht gesehen haben, was ihm unter dem Tisch auf der Bühne zugestoßen war. Aber selbst, wenn es von ihm bemerkt worden wäre, hätte er niemals geglaubt, daß dieser Angriff ohne ein angemessenes Motiv stattgefunden hätte. Wer würde ihm das schon abnehmen? Und wenn Esslyn tatsächlich einen Grund dafür gehabt hätte, Nicholas anzugreifen, könnte dann nicht auf der anderen Seite auch Nicholas ein Motiv gehabt haben, Esslyn zu töten? Wie sehr das alles auch immer aus der Luft gegriffen sein mochte, denn nach Nicholas’ Logik hatte Esslyn einfach einen vorübergehenden Anfall von Wahnsinn erlitten, Nicholas jedenfalls sah sich plötzlich selbst in einen Wust aus zwiespältigen Gefühlen und Dreck getrieben und den Fragen und Gegenfragen eines Mannes mit Basiliskenaugen ausgesetzt. (War das denn wirklich noch der alte Tom?) Gott sei Dank war keiner sonst, mit Ausnahme dieses Sergeants, bei dem Gespräch zugegen. Alles, was er tun mußte, war, sich nicht aufzuregen. Dann würde es schon gutgehen.
»Was haben Sie denn mit Ihrer Hand gemacht?«
»Mit welcher Hand?«
»Lassen Sie mal sehen.« Ein ärgerliches Grunzen. »Die andere Hand, Nicholas.«
Nicholas streckte die Hand aus. Barnaby betrachtete sie schweigend. Troy erlaubte sich, einen Pfiff auszustoßen.
»Sieht ja übel aus«, bemerkte der Chefinspektor. »Wie haben Sie das hingekriegt?«
»... Ich bin gestochen worden...«
»Wovon?«
»Von einer Wespe.«
»Eine Wespe in den Kulissen? Das ist ja mal was ganz Neues.«
»Es ist bereits gestern passiert.«
»Aha.« Barnaby nickte und lächelte, als fände er diese unsinnige Erklärung befriedigend. Dann fuhr er fort: »Wie ich gehört habe, waren Sie es, der die Gerüchte über Kittys Untreue in Umlauf gesetzt hat?«
»Es war kein Gerücht«, widersprach Nicholas entrüstet. »Ich weiß, daß es falsch war, Tim und Avery davon zu erzählen, und das tut mir auch leid, aber es war kein Gerücht. Ich habe sie mit David Smy in der Beleuchterkabine gesehen.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Ja. Die beiden waren die einzigen Personen im ganzen Gebäude.«
»Außer Ihnen selbst.«
»Nun ja... natürlich...«
»Also haben wir nur Ihre Aussage, daß jemand mit Kitty zusammen war.«
»Sie wird sich dort drinnen wohl kaum allein rumgerollt und gewunden haben.«
»Sie könnte dort oben ja auch mit Ihnen zusammen gewesen sein.«
»Mit mir?«
»Warum nicht? Ich denke, Sie wären ein viel geeigneterer Liebhaber für sie als David.« Nicholas wirkte eher ertappt als überrascht.
»Warum zum Teufel sollte ich denn Geschichten über mich selbst in die Welt setzen?«
»Vielleicht weil Sie wollten, daß es ans Tageslicht kommt.«
»Das ist doch blanker Unsinn...«
»Was ist mit Ihrer Hand geschehen?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Vergessen Sie die Wespe. Es ist November, nicht Mitte Juli. Was ist also mit Ihrer Hand passiert?«
»...Ich... ich erinnere mich nicht.«
»Na gut. Was ist mit Ihrem Daumen passiert?«
»Ein Splitter.« Nicholas ergriff heilfroh die Möglichkeit, eine kurze und wahre Antwort geben zu können.
»Wann?«
»Heute abend.«
»Und wie ist es passiert?« Barnaby schien auf einmal voll konzentriert. Nicholas hielt seinem Blick nicht stand und schloß die Augen.
»Ich... ähem... ich hab’s vergessen.«
»Nicholas.«
Nicholas öffnete die Augen. Tom blickte nun etwas milder drein, wirkte eher wieder wie er selbst. Nicholas bemerkte, daß er die Luft angehalten hatte, jetzt atmete er dankbar wieder aus; seine Wirbelsäule richtete sich ein wenig auf, und seine Schultern entspannten sich.
»Ja, Tom.«
»Wieso haben Sie geglaubt, Esslyn wolle Sie umbringen?«
Nicholas japste, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Er kämpfte darum, sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen und eine kluge Antwort zu formulieren. Im Moment schien sein Gehirn allerdings total verwirrt zu sein, nur noch kaleidoskopartige Fragmente auszuspucken. Ihm blieb nichts weiter übrig als auszuweichen.
»Was?« Er bemühte sich, laut zu lachen. Dabei kam allerdings nur ein würgendes Krächzen heraus. Er hatte Rosa vergessen. Und Tom hatte sein altes Ich schon wieder abgestreift. Er sagte: »Ich sitze nun schon seit ziemlich langer Zeit auf diesem Stuhl, Nicholas. Und so langsam werde ich müde. Wenn Sie mich jetzt auch noch an der Nase herumführen, dann werden Sie sich im Kittchen wiederfinden. Haben Sie mich verstanden?«
Nicholas schluckte. »Ja, Tom.«
»Gut. Und jetzt die Wahrheit, bitte.«
»Nun... meine Hand... er hat es mit seinen Ringen getan, erst meine Finger nach innen gedreht und mir dann die Hand zusammengedrückt. Gegen Ende der Aufführung schließlich, als ich unter den Tisch kriechen mußte, ist er hinter mir hergekommen. Sein Umhang hat kein Licht mehr durchgelassen ... ich saß in der Falle. Dann hat er versucht, mich zu erwürgen...« Nicholas murmelte etwas in sich hinein. Barnaby beugte sich vor und betrachtete Nicholas’ lilienweißen Hals. »Oh, aber er hat mich nicht wirklich angefaßt.«
»Ich verstehe«, erwiderte der Chefinspektor. »Er hat zwar versucht, Sie zu erwürgen, aber er hat Sie nicht wirklich angefaßt.«
Nicholas verfiel in Schweigen. Wie konnte er bloß die Gefühle beschreiben, die er während dieser schrecklichen Minuten empfunden hatte, in denen er, vor lauter Angst wie gelähmt, vor Esslyns Schakalatem und seinen knöchernen Fingern, die wie Klauen wirkten, immer weiter zurückgewichen war? Er fing zu stottern an und erklärte, er hätte das Stück um anderthalb Seiten verkürzt und gleich nach Kitty gerufen.
»Und Sie glauben wirklich, daß es nur Kittys Erscheinen zu verdanken war, daß er von seinem Angriff abgelassen hat?«
»Ja... ich bin der festen Überzeugung.«
»Aber nur einstweilen?«
»Wie bitte?«
»Nun ja, wenn jemand ganz offensichtlich etwas Derartiges vorhat und beim ersten Versuch davon abgehalten wird, dann wird er immer eine Gelegenheit suchen, einen zweiten Angriff zu starten.«