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»Daran habe ich in diesem Augenblick nicht gedacht. Ich habe mir nur gesagt, wenn ich von der Bühne komme, bin ich in Sicherheit.«

»Erwarten Sie wirklich, daß ich Ihnen das glaube?«

»Ich weiß, daß es nicht sehr überzeugend klingt, Tom.«

»Es klingt sogar total unglaubwürdig! Plausibler dagegen wäre es, wenn Sie voller Angst und Wut rausgekommen wären, die Klinge genommen, den Tesafilm abgerissen hätten und - Bingo! Sie hätten ihn erwischt, bevor er Sie erwischen konnte. Und damit wäre das ganze Problem gelöst gewesen.«

»Das ist nicht wahr.«

»Wenn Sie auf Notwehr plädieren«, meinte Barnaby freundlich, »dann könnten Sie mit drei Jahren davonkommen.«

»Nein!«

»Wieso sind Sie geradewegs zum Requisitentisch gegangen?«

»Ich habe mich dort bloß für ein paar Sekunden hingesetzt. Ich war völlig durch den Wind und hatte diesen Splitter im Daumen, der wie Feuer brannte. Dann bin ich in die Herrengarderobe runter gegangen.« Nicholas konnte hören, wie die Sätze zwischen seinen klappernden Zähnen hervorholperten. Jeder Satz klang noch weniger überzeugend als der vorangegangene.

»Hat Sie jemand gesehen?«

»... Ich weiß es nicht... Rosa...«

»Was zum Teufel hatte denn Rosa in der Herrengarderobe zu suchen?«

»Sie war nicht dort. Ich konnte keine Pinzette finden und bin deshalb in den Nebenraum gegangen.«

»Wer war in der Herrengarderobe?«

»Niemand.« Barnaby schien erstaunt. »Aber... wenn ich die Klinge wirklich in der Hand gehabt hätte, dann hätte ich doch das Klebeband abgezogen und mich schleunigst aus dem Staub gemacht, ehe ich von jemandem vermißt worden wäre, oder etwa nicht?«

»Oh, da wäre ich mir nicht so sicher. Wenn ich an dem Messer herummanipuliert hätte, wäre ich sichergegangen, für den Aufenthalt in der Garderobe einen Vorwand parat zu haben und hätte in diesem Fall bewußt dafür gesorgt, daß ich von jemandem gesehen werde.«

»Sie glauben doch nicht etwa, daß ich mir deshalb den Splitter in den Daumen gerammt habe? Es war schrecklich schmerzhaft.« Nicholas zupfte an dem Pflaster.

»Wollen Sie die Wunde sehen?«

Barnaby schüttelte den Kopf und erhob sich langsam von seinem Stuhl. »Sergeant, sehen Sie doch mal nach, ob wir nicht etwas Tee bekommen können. Meine Kehle ist schon ganz ausgetrocknet...«

Nicholas wartete einen Moment, und als Barnaby keine Anstalten machte, die Befragung fortzusetzen, erhob er sich reichlich schwankend. »... Ist das alles, Tom?«

»Fürs erste ja.«

»Meinen Sie« - Nicholas schien beinahe einen Witz aus den Worten machen zu wollen - »ich sollte mir einen Anwalt besorgen?«

»Jeder sollte einen Anwalt haben, Nicholas«, antwortete Barnaby und lächelte sanft. »Man weiß ja nie, wann man ihn gebrauchen kann.«

Es war etwa zehn Minuten später, als Nicholas seinen Mantel anzog und ihm plötzlich etwas Schreckliches einfiel. Barnaby hatte die erste Frage, die selbst ein weniger erfahrener Ermittler gestellt hätte, nicht gestellt. Und der Chefinspektor war sicher weit davon entfernt, ein Dilettant zu sein, wie allein Nicholas’ bloßliegende Nerven bezeugten. Er hatte Nicholas nicht gefragt, weshalb Esslyn ihn eigentlich umbringen wollte. Für diese grobe Auslassung mußte es einen Grund geben. Nicholas glaubte nicht einmal eine Sekunde lang, daß es sich um bloße Unachtsamkeit oder Vergeßlichkeit gehandelt hatte. Vermutlich glaubte Barnaby, daß er es bereits wußte. In dem Fall wäre er eine verflixte Spur weiter als ich, dachte Nicholas. Er beschloß, sich später darum zu kümmern, und für den Moment lenkte er seine Schritte in Richtung Damengarderobe.

Weit später, als sie in der Lage war, mit einem gewissen Grad an Gelassenheit auf die Premiere von Amadeus und deren schockierendes Nachspiel zurückzublicken, wunderte sich Dierdre über die Länge der Zeit, die sie gebraucht hatte, um zu begreifen, daß es nur einen einzigen Ort gab, an dem sich ihr Vater sicher und geborgen fühlte, wenn sie nicht da war. Nur einen Ort, und wahrscheinlich hielt er sich genau dort auf.

Die Tagesstätte (Laurel Lodge) lag fast eine Meile außerhalb der Stadtmitte. Zwei senffarbene Minibusse, Phoenix Eins und Phoenix Zwei, sammelten an jedem Wochentag die Alten und Gebrechlichen ein, brachten sie dorthin und wieder nach Hause zurück. Also kannte Mr. Tibbs den Weg. Tatsächlich war er auch nicht allzu kompliziert. Man mußte bloß die B 416 in Richtung Slough nehmen und dann auf eine Nebenstraße via Woodburn Common abbiegen. Die Strecke konnte man in etwa einer Stunde zurücklegen. Oder sogar noch weniger, wenn man sich das Herz aus dem Leib rannte und versuchte, vor seinen dunklen, irrationalen Ängsten davonzulaufen.

Dierdre erinnerte sich wieder an die Tagesstätte, als sie vor das elektrische Feuer in der Küche gesetzt worden war und von der Polizistin dazu überredet wurde, einen Schluck heißen, süßen Tee zu trinken und sich keine Sorgen mehr zu machen. Jetzt befand sie sich wieder im Fond des Escort, von dem Tee und vor allem von dem Wissen aufgemuntert, daß es nun endlich ein Ende hatte mit diesem hoffnungslosen Umherirren und sie auf dem Weg dahin waren, wo ihr Vater mit Sicherheit schon auf sie warten würde. Sie bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben, weil sie wußte, daß von ihrem Auftreten sehr viel abhängen würde, sowie sie ihn traf.

Dierdre machte sich natürlich immer noch Sorgen. Zum Beispiel könnte das Zentrum abgeschlossen sein, und wenn dann auch keine Betreuer da waren, kam Mr. Tibbs nicht hinein. Diese Betrachtungsweise hatte Dierdres inneres Gleichgewicht wieder leicht ins Wanken gebracht. Das Gebäude war zwar gut durchdacht, ja, sogar liebevoll entworfen, so daß seine Bewohner in den Genuß von Licht und Sonnenschein kamen, bestand es doch fast ganz aus Glas. Aber was war, wenn sich ihr Vater bei seiner wahnsinnigen Suche nach Mrs. Coolidge (oder Nancy Banks, die ein solches Theater um ihn machte) verletzte, weil er gegen diese schweren Scheiben gehämmert hatte oder, noch schlimmer, einen Stein aus dem Garten geholt und versucht hatte, damit die Türen einzuschlagen? Angenommen, er hätte dann probiert, sich durch den Spalt zu zwängen, und dabei in das zersplitterte Glas gegriffen...

An diesem Punkt zwang Dierdre ihren Verstand, die schrecklichen Vorstellungen zu verdrängen, und sie rang einmal mehr darum, vergleichsweise ruhig zu wirken. Aber der Gedanke ließ sich nicht so leicht aus dem Hirn schaffen, und als der Wagen schließlich vor der Laurel Lodge vorfuhr und die dunklen Glasstrukturen unbeschadet vor ihr blinkten, verspürte sie große Erleichterung.

Die Eisengitter waren verschlossen; lediglich eine Scheinbegrenzung in Form einer Ziegelmauer, die knapp einen Meter hoch war, umgab das Gelände. Immer noch blies der heulende Wind. Als Dierdre über den Kiesweg lief, blähte sich ihr Mantel auf, und das »Daddy, wo bist du? Ich bin es, Dierdre« wurde in ihren Mund zurückgeweht, kaum daß es über ihre Lippen gekommen war. Wachtmeister Watson hielt eine Taschenlampe in den Händen, überprüfte sämtliche Türen und Fenster und rief in einer Weise »Mr. Tibbs«, die Dierdre sehr autoritär und sogar bedrohlich erschien. Er verschwand um eine Ecke des Gebäudes und leuchtete in jeden der fünf einsehbaren Räume - den Arbeitsraum, die Küche, den Ruheraum, das Büro und die Kantine. Dann kam er zurück und meldete: »Hier ist er nicht.« Und Dierdre antwortete nur verständnislos: »Ja, ja... irgendwo...«

Sie lief durch den Garten, und Watson folgte ihr mit der Taschenlampe. Der Strahl warf einen Bogen aus Licht über Gras und Büsche. Eine Reihe aus grüngoldenen Koniferen, die wie ein See wogten und rauschten, wurde von dem Lichtkegel gestreift und verschwand dann wieder im Dunkeln. Die Blumenbeete waren leere braune Fassungen, und die Büsche, die diesem Ort den Namen gegeben hatten, ächzten in dem bitterkalten Wind, der sie zerzauste. (Dierdre hatte Lorbeer schon immer gehaßt. Er war so derb und melancholisch, und seine ledrigen, gefleckten Blätter erinnerten sie irgendwie immer an die Pest.)