Выбрать главу

»Wie auch immer«, fuhr sie mit strahlenden Augen und verschlagenem Blick fort, »wenn ich auf dem Klo gewesen wäre, um das Tesa-Band abzureißen, dann hätte ich wohl kaum lauthals herausgeschrien, daß ich ihn umbringen will.«

»Es sind schon seltsamere Dinge vorgekommen. Sie könnten doch einen doppelten Bluff inszeniert haben, weil Sie vorausgesetzt haben, daß wir genau das denken würden.«

»Oh, kommen Sie, Tom. Sie kennen mich doch. So klug bin ich nun wirklich nicht.«

Sie starrten sich gegenseitig an. Kitty, deren veilchenblaue Augen vor Zorn dunkel waren, dachte daran, wie sie herausfinden könnte, wer sie in der Beleuchterkammer gesehen hatte, und wenn sie es erst wüßte, würde derjenige sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Barnaby fragte sich, ob sie den Grund für Esslyns Ausbruch wirklich nicht gekannt hatte. Hatte sie tatsächlich (er blickte auf seine Uhr) über zwei Stunden mit Nicholas, dem zweiten Opfer von Esslyns Gewalttätigkeit, in der Werkstatt verbracht, ohne darüber Vermutungen angestellt zu haben und zu einem Schluß gekommen zu sein? Sie mußten sich doch darüber unterhalten haben. Er nahm an, daß das Ganze auch dann rausgekommen wäre, wenn die Everards ihre Mäuler gehalten hätten. War Kitty bloß eine gelangweilte junge Frau, die nur einfach so fremdging?, rätselte er. Oder war sie vielmehr eine berechnende Harpyie, die sich einen finanziell gutgestellten älteren Mann geangelt hatte und ihn dann loswerden wollte? War das Entfernen des Klebebands ein impulsiver Akt gewesen? Oder war er schon seit einiger Zeit geplant? Wenn dem so sein sollte, sinnierte Barnaby, wieso sollte es dann ausgerechnet bei der Premiere stattfinden? Ihm wurde bewußt, daß sich Kitty in ihrem Stuhl vorgebeugt hatte.

»Sie wollen das doch nicht etwa mir unterschieben, Tom«, bemerkte sie mit Nachdruck.

»Ich habe überhaupt nicht vor, es irgend jemandem >unterzuschieben<, Kitty. Aber ich habe vor, die Wahrheit herauszufinden. Also seien Sie gewarnt.«

»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Ich habe nichts zu verbergen.« Ihre Wangen wurden jedoch plötzlich sehr rot, und sie konnte ihn nicht mehr ansehen.

»Dann haben Sie auch nichts zu befürchten.«

Nach einer langen Pause, in der sich Kitty wieder soweit sammelte, daß sie einen zweiten Schlafzimmerblick in Troys Richtung werfen konnte, stand sie auf und sagte: »Nun, wenn das alles ist... eine Frau in anderen Umständen sollte zu dieser Tageszeit schon seit Stunden in ihrem einsamen Bett liegen.«

»Das ist vielleicht ein Mädchen«, stöhnte Barnaby, als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

»Für einen Gin Tonic ist die für jeden zu haben«, murmelte der Sergeant und prägte sich hoffnungsvoll Kittys Telefonnummer ein, die er über ihrer Aussage vermerkt hatte. »Vielleicht haben sie es gemeinsam ausgeheckt. Sie und ihr Liebhaber.«

»Der Gedanke war mir auch schon gekommen.«

Troy überflog seine Notizen, und dann fragte er: »Was jetzt, Sir?«

Barnaby stand auf und nahm seinen Mantel. »Machen wir uns mal auf die Suche nach dem großen weißen Boß.«

Barnaby hatte kaum einen Fuß in die Werkstatt gesetzt, als Harold wutentbrannt und wie ein Windhund auf ihn zusprang. »Da sind Sie ja!« schrie er, als hätte er es mit aufsässigen Kindern zu tun. »Wie können Sie es wagen, mich warten zu lassen, während Sie einen nach dem anderen von der Truppe verhören? Sie kennen doch meine Position hier gut genug. Wie soll ich denn das Ensemble weiter unter Kontrolle halten, wenn alle sehen, wie ich permanent übergangen werde wie... wie ein kleiner Balljunge!«

»Tut mir leid, daß wir Sie aufgeregt haben, Harold«, erwiderte Barnaby seelenruhig. »Bitte... setzen Sie sich.« Er zeigte auf einen rustikalen Trägerbalken, in den staubige blaue Papierrosen gesteckt waren. Widerstrebend und wütend setzte sich Harold.

»Sehen Sie«, fuhr der Chefinspektor fort, »jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Manchmal ergänzen, manchmal widersprechen sie sich, aber was ich letztendlich brauche, ist der Blickwinkel von jemandem, der die Gruppe durch und durch kennt. Einer, der scharfsinnig, intelligent und aufmerksam ist und mir dabei helfen kann, all meine Informationen zusammenzufügen und vielleicht eine Struktur zu erkennen, die dieser ganzen schrecklichen Affäre zugrunde liegt. Deshalb habe ich Sie bis zuletzt hierbehalten.« Er sah Harold besorgt an. »Ich dachte, Sie hätten das verstanden.«

»...Nun... natürlich, Tom... ich dachte mir schon, daß so etwas dahintersteckt... aber ich hätte einfach einen diskreten Hinweis erwartet, um informiert zu sein.«

Barnaby blickte zutiefst beschämt drein. Troy, der neben Harold auf einem Liegestuhl saß (oder besser gesagt, lag), beobachtete das Ganze mit zunehmendem Gefallen. Man konnte fast hören, wie Dampf aus dem Kerl entwich und beobachten, wie Wohlgefallen sich breitmachte. Als nächstes würde die Selbstgefälligkeit kommen, der fruchtbarste Boden, um Enthüllungen voranzutreiben (und nicht etwa, wie allgemein angenommen wurde, Angst oder Zorn). Troy versuchte, seinem Chef in die Augen zu sehen, um ihm mit Blicken zu signalisieren, wie sehr er diese Taktik zu schätzen wußte, aber er hatte keinen Erfolg. Barnaby war zu konzentriert.

Schauspieler, dachte der Sergeant mit dem Anflug eines herablassenden Lächelns. Man mußte schon früher aufstehen, wenn man es mit dem Chefinspektor aufnehmen wollte. Er konnte so viele Ausdrucksformen auf sein Gesicht zaubern und seiner Stimme derart viele Tonlagen geben, wie ein verwahrloster Hund Flöhe hatte. Er konnte die Taube, den Skorpion und selbst den Esel mimen, wenn er meinte, es würde seinen Zwecken dienen. Mehr als einmal hatte Troy ihn in anscheinend dumpfer Ratlosigkeit den Kopf schütteln sehen, so daß sich der Zeuge in Sicherheit wähnte, fröhlich darauflosplapperte und dabei den immer lauter werdenden Hall der Schritte des Kerkermeisters überhörte. Barnaby hatte ein ganz spezielles Lächeln, das nur im Moment der Umzingelung zu sehen war. Troy hatte dieses Lächeln zuweilen zu Hause vor dem Badezimmerspiegel eingeübt und sich dabei selbst fast zu Tode gefürchtet. Jetzt gratulierte Barnaby Harold zu der hervorragenden Produktion.

»Danke, Tom. Es war wahrlich kein leichtes Stück, aber wie Sie wissen, bin ich bekannt dafür, keiner Herausforderung aus dem Weg zu gehen. Es war im ersten Akt nicht alles erfreulich, aber die zweite Hälfte hat eine enorme Verbesserung gebracht. Und zwar eine ganz intensive, besonders noch durch dieses Ende...« Er schnalzte mit der Zunge. »Natürlich schieben die Leute es immer gleich auf den Regisseur, wenn etwas schiefgeht.«

»Ich fürchte, genau das ist jetzt auch der Fall«, stimmte Barnaby ihm zu. Harolds Interpretation des Geschehens gab ihm doch einige Rätsel auf. »Sie waren, glaube ich, gar nicht hinter der Bühne.«

»Kaum. Ich bin um fünf vor durch die Garderoben gelaufen, um allen bonne chance zu wünschen - nun, ich glaube, da waren Sie dicht hinter mir? Und dann wieder in der Pause, um ihnen zu sagen, daß sie sich zusammenreißen sollen.«

»Und in den Kulissen haben Sie kein verdächtiges Verhalten bemerkt?«

»Selbstverständlich nicht. Wenn mir etwas aufgefallen wäre, dann hätte ich ja alles angehalten. Immerhin haben wir noch fünf weitere Vorstellungen. Und am Samstag sind wir ausverkauft.«

»Haben Sie eine Vermutung, wer sich an dem Rasiermesser zu schaffen gemacht haben könnte?«

Harold schüttelte den Kopf. »Sie können sich sicher vorstellen, daß ich mir endlos Gedanken darüber gemacht habe. Es könnte zwar jemanden in der Truppe geben, der mir so etwas antäte« - er stieß einen perplexen Seufzer aus -, »aber ich kann mir nicht vorstellen, warum.«

»Oder es hat jemand etwas gegen Esslyn gehabt.«

»Pardon?«

»Man könnte doch behaupten, daß Esslyn genauso erfolgreich sabotiert worden ist wie Ihre Produktion.«

»Oh... richtig.« Harold schürzte mit Bedacht die Lippen, um darauf hinzuweisen, daß das der Situation eine ganz neue Wendung gab, auf die er zwar nicht vorbereitet, die aber wenigstens nicht ganz von der Hand zu weisen war. »Tom, meinen Sie, es war etwas Persönliches?«