Выбрать главу

»Nein, das kann ich beim besten Willen nicht machen. Wir fahren nur Notfälle.«

»A... a... aber...«, druckste Dierdre überfordert. »Ich wohne doch ewig weit weg von hier.«

»Das kann schon sein, Herzchen. Aber was ist, wenn auf der Autobahn gerade ein schwerer Unfall passiert und der Krankenwagen sich auf einer Spritztour mit Ihnen befindet?«

»... Sie haben doch sicher nicht bloß einen Wagen...«

»’tschuldigung. Das sind eben die Regeln.«

Dierdre sah ihn fassungslos an. In der heißen, stickigen Empfangshalle schienen ihre nassen Kleider zu dampfen. Sie wankte vor Erschöpfung. Und jetzt, da ihr Vater in guten Händen war, fielen alle Gefühle von ihr ab - Angst, Liebe, Schrecken und Verzweiflung. Sie war fast bis zur Grenze der Nichtexistenz benommen.

»Die Busse fahren um sieben wieder... Sie können sich ja irgendwo zum Schlafen hinlegen.« Dierdre tat ihm leid, daran bestand gar kein Zweifel. Sie sah wirklich ganz schön fertig aus. »Wenn es nach mir ginge...« Er sagte das immer, weil er sich dann besser fühlte. Er mußte sich besser fühlen, um vorschlagen zu können: »Oder ich kann Ihnen auch ein Taxi rufen.«

»Ein Taxi.« Das war keine Frage. Sie wiederholte es nur wie ein Kind, das eine Lektion zu lernen hat. Dierdre mußte sich sehr zusammenreißen, um überhaupt noch denken zu können. Ihr Erinnerungsvermögen schien völlig zum Stillstand gekommen zu sein wie ihre anderen psychischen und physischen Funktionen auch. Ein Taxi erforderte Geld. Vorsichtig steckte sie die Hände in die Taschen. Sie hatte kein Geld dabei. Unter größter Anstrengung zwang Dierdre sich, eine Erinnerung auf die leere Leinwand ihres Geists zu projizieren. Sie sah sich aus dem Latimer rennen. Sie hatte ihren Mantel an, und ihre Hände waren leer. Das hieß, ihre Tasche mußte immer noch im Theater sein. Wenn sie sich jetzt also ein Taxi nehmen würde (ihre Augenbrauen zitterten vor Mühe, sich den nächsten Schritt vorzustellen), müßte der Fahrer warten, bis sie ihre Tasche geholt hatte. Erst dann nämlich konnte sie ihn bezahlen, und er konnte sie nach Hause fahren. Dierdre, deren Gesicht aschfahl vor Erschöpfung war, ging die Details ihres einfachen Planes noch einmal durch, konnte dabei aber keinen Fehler finden.

»Ja«, bat sie, »ein Taxi.«

»Das wird aber jetzt den doppelten Preis kosten«, gab der Mann, der am Empfang Dienst hatte, zu bedenken und begann, munter zu wählen. »Es ist schon nach zwölf, verstehen Sie.«

Dierdre lehnte das Angebot, sich ein wenig auf dem Sofa zu entspannen, ab, da sie befürchtete, sie würde einfach zusammenbrechen und niemals wieder aufstehen, sobald sie erst einmal saß. Sie wunderte sich im Moment ohnehin maßlos darüber, warum die Beine ihren Körper noch tragen konnten. Sie fühlten sich an, als wären sie aus zerbrochenem und wieder schlecht zusammengeklebtem Porzellan. Der Wagen kam fast sofort. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, blickte Dierdre erschrocken an.

Und sie sah auch tatsächlich schrecklich aus. Ihr Gesicht war totenblaß, und um ihre Augen - glasig und starr - lagen schwarze Ringe. Ihre feuchten Kleider waren voller Lehmflecken, und irgendwo auf ihrer nächtlichen Irrfahrt hatte sie auch einen Schuh verloren. Darüber hinaus (der Taxifahrer konnte nicht umhin, es zu bemerken) hatte sie auch keine Handtasche bei sich. Diese Tatsache sowie ihre bizarre Erscheinung - er hielt sie für eine Art Hippie - ließen die an sich natürliche Besorgnis in ihm aufsteigen, daß er vermutlich kein Geld für die Fahrt sehen würde. Nachdem sie ihn in diesem Punkt beruhigt hatte, reichte er ihr den Arm, den sie genauso selbstverständlich nahm, wie sie ihn nicht zu sehen schien, und sie verließen gemeinsam das Gebäude.

»Tiere kosten extra«, erklärte er, als sie beim Auto angekommen waren.

»Was?«

»Ist das denn nicht Ihrer?« Der Mann deutete mit dem Kopf auf einen kleinen Hund, der geduldig vor dem Haupteingang gewartet hatte und jetzt neben ihr hertrottete.

»Oh...« Dierdre zögerte und sah auf das Tier hinunter. Von der gigantischen Aufgabe, dem Mann ihren Mangel an Aufmerksamkeit zu erklären oder gar etwas zu der Herkunft des Hundes, seines Besitzers oder der Gründe zu sagen, wieso er hier war, fühlte sie sich schlichtweg überfordert, und daher antwortete sie einfach mit: »Ja.«

Die Straßen waren nahezu menschenleer, und sie schafften die zwölf Meilen nach Causton in weniger als zwanzig Minuten. Aber erst, als sie das Latimer erreichten, wurde Dierdre der große Haken an ihrem Plan bewußt. Im Theater schien niemand mehr zu sein. Das Gebäude war dunkel und der Wachmann bereits gegangen. Dierdre stand auf dem Bürgersteig, und jetzt wurde ihr außerdem noch bewußt, daß sich ihre Hausschlüssel ebenfalls in der Tasche befanden. Und da waren auch die Schlüssel für das Latimer.

Der Taxifahrer, dessen Mißtrauen jetzt wieder erwacht war, drückte auf die Hupe. Dierdre ging auf das Theater zu und bemerkte eine große, schlaksige Vogelscheuche mit wild gelocktem Haar, die sich plötzlich im Glas spiegelte. Sie drückte gegen eine der Türen, die jedoch nicht nachgab. Sie stemmte sich mit beiden Händen dagegen, mehr um sich selbst zu stützen, als um die Tür zu öffnen. Dabei spürte sie jedoch, wie die Tür ein klein wenig nachgab. Deshalb drückte Dierdre mit aller Kraft, die sie noch hatte. Es war, als würde sie einen gigantischen Felsbrocken einen Berg hinaufschieben. Dierdre betrat das dunkle Foyer. Bestimmt, dachte sie, muß noch jemand hier sein, denn weshalb sollte die Tür sonst noch offen sein? Vielleicht war das Abschließen aber ja auch wegen des ganzen Wirbels (der für sie schon Lichtjahre zurückzuliegen schien) vergessen worden. Egal, wenigstens konnte sie ihre Tasche holen. Sie sah vage den Umriß der Treppe zum Zuschauersaal, die aussah wie eine zerklüftete Klippe, und die enorme Weite des Teppichs, die sie überwinden mußte, um die Stufen zu erreichen.

Sie machte den ersten Schritt. Und dann vorsichtig noch zwei weitere. Als die Türen zum Zuschauerraum aufgingen, strömte Licht in das Foyer, und zwei Gestalten erschienen. Benommen sah Dierdre, wie die Türen, die immer noch in Bewegung waren, in die Luft flogen. Dann folgten die Stufen. Und schließlich spürte sie, wie der harte Boden plötzlich gegen ihren Hinterkopf schlug.

Abgang, gefolgt von einem Bären

Die Barnabys saßen beim Frühstück. Cully aß frische Ananas und griechischen Joghurt. Barnaby war mit der wabbeligen Herausforderung befaßt, die ein zu weich gekochtes Ei stellte, und Joyce ordnete zwei Zweige Vibumum bodanan-tense in einer Glasvase auf einem Tablett an.

»Ich wette«, sagte Cully, »daß absolut jeder, der gestern im Theater war, das ganze Drama jetzt bei Eiern und Speck genüßlich durchkaut.« Sie hatten das bis vor einigen Minuten selbst auch getan, bis Cully angemerkt hatte, Harold könne jetzt jedenfalls nicht mehr den Mangel an Echtheit beklagen, woraufhin sie hart für ihre Gefühllosigkeit kritisiert worden war. Aber sie kam schon bald wieder auf das Thema zurück. »Meinst du, da steckt einer mit der lustigen Witwe unter einer Decke?«

»Schon möglich.«

»Ich wette, so ist es. Wie in einem film noir. Der Milchmann klingelt immer zweimal.«

»Sei nicht so frech, Cully.«

»Andererseits«, bemerkte Barnaby und nahm eine Tablette, »sieht es auch für Dierdre nicht besonders gut aus.«

»Die arme Dierdre«, seufzte Joyce automatisch. Dann mißbilligte sie das Pillenschlucken ihres Mannes, das sie beharrlich als einen amüsanten Tick ansah.

»Ihr solltet so etwas nicht sagen.«

»Was meinst du genau, mein Liebling?« erkundigte sich ihre Mutter.

»Diese ständigen bemitleidenden Bemerkungen über Dierdre, so als wäre sie ein armes Ding.«

»Aber das ist doch ganz verständlich«, beharrte Joyce. »Sie führt nun mal ein sehr trauriges Leben. Du dagegen hast alle erdenklichen Vorteile und solltest deshalb etwas dankbarer sein.«