Joyce schüttelte den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben.« Dierdres Gesichtszüge gerieten in heftige Bewegung. »Was für eine furchtbare Nacht. So lange ich lebe, werde ich das nie vergessen.«
»Ich denke, das wird keiner von uns jemals vergessen können«, antwortete Joyce. »Du könntest vielleicht im Krankenhaus anrufen, während du auf dein Bad wartest. Ich habe die Nummer aufgeschrieben und neben das Telefon gelegt.«
Nachdem Joyce gegangen war, fand Dierdre ihre Brille, setzte sie auf, hockte sich auf die Kante am Fußende des Betts und starrte in den Spiegel über dem Frisiertisch. Cullys Kleid wogte wie ein purpurner Fallschirm um sie herum. Das Rot erinnerte an Wunden in frisch getötetem Fleisch. Als sie das Wasser im Bad rauschen hörte, erinnerte sie sich wieder an das Reservoir. Sie klammerte sich an der Bettkante fest. In ihrem Geist setzten sich zwei Bilder zusammen: Esslyns Kehle klaffte wieder auf. Das Blut kam - ein Rinnsal, ein Strom, ein reißender Fluß, der in das Reservoir floß und das Wasser verschmutzte. Und ihr Vater fiel noch einmal aus dem Boot, tauchte unter und kam wieder an die Oberfläche. Sein Gesicht schimmerte fleischfarben. Er tat es wieder und immer wieder, wie eine Aufziehpuppe. O Gott, dachte Dierdre, diese beiden Bilder werde ich jetzt für den Rest meines Lebens vor Augen haben. Jedesmal, wenn ich aufhöre, irgend etwas zu tun. Jedesmal, wenn ich die Augen schließe. Jedesmal, wenn ich versuche einzuschlafen. Mein ganzes Leben lang. Entsetzt schlug sie die Hände vor die Augen.
»Hallo.« Dierdre sprang auf. Cully stand in der Tür, so schlank wie immer, ein Aal in Bluejeans. Sie trug zudem noch ein T-Shirt, auf dem stand: »Merde! J’ai oublié d’éteindre le gaz!« »In diesen Sachen siehst du besser aus denn je, Dierdre. Behalte sie.«
Wenn ich jemals eine Spitze gegen meine Fülligkeit gehört habe, dann war das eine, dachte sich Dierdre. Sie antwortete steif: »Nein, danke. Ich habe zu Hause mehrere Schlafanzüge.« Dann überlegte sie: Was war eigentlich, wenn Cully einfach bloß versuchte, nett zu sein? Wie brüsk und undankbar mußte sich das dann anhören.
»Schon gut.« Cully lächelte unbeeindruckt. Sie hatte perfekte Zähne, ebenmäßig und strahlend weiß, wie ein Filmstar. Dierdre hatte einmal gelesen, daß sehr weiße Zähne immens kalkhaltig waren und daher schneller brachen. Das schien ihr ein viel zu geringer Preis für die enorme Wirkung zu sein. »Ich bin auch nur gekommen, um dir zu sagen, daß ich ein ganz tolles Badeöl aus Frankreich zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Celandine und Marshmallow - und es steht auf dem Fensterbrett im Badezimmer. Nimm reichlich davon - dann fühlst du dich gleich wunderbar.« Cully wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um und zögerte.
»Eine schreckliche Geschichte, gestern abend. Tut mir leid. Das mit deinem Vater, meine ich.«
»Der kommt schon wieder in Ordnung«, beeilte sich Dierdre zu erwidern.
»Da bin ich mir ganz sicher. Ich wollte es nur loswerden.«
»Vielen Dank.«
»Esslyn dagegen tut mir nicht leid. Er war ein Ausbund an Tollwut, daran besteht kein Zweifel. Wenn ich Königin wäre, würde ich anberaumen, daß das Volk zur Feier des Tages auf den Straßen tanzt.«
Als Cully gegangen war, rief Dierdre im Krankenhaus an und bekam zu hören, daß ihr Vater schlief und am Nachmittag ein Spezialist vorbeikommen würde und es daher besser sei, sie würde ihn nicht vor morgen besuchen. Nachdem man ihr versichert hatte, ihm auszurichten, daß sie angerufen und einen Gruß hinterlassen hatte, ging Dierdre ins Bad und fühlte sich ein wenig schuldbewußt, weil sie der Gedanke daran erleichterte, mal einen ganzen Tag lang Ruhe zu haben und sich nicht der Belastung eines Krankenbesuchs aussetzen zu müssen.
Dierdre maß vorsichtig einen Fingerhut von dieser Essence de Guimauve und Chelidoine ab, schüttete ihn ins Wasser und ließ sich kurz darauf selbst in das wohlriechende Badenaß gleiten. Dann, als sie ihren Körper entspannt zurücklehnte, ließ sie sich fallen, floß, glitt davon, entschwand. Ihr Geist schmiß alle grauenvollen Erinnerungen ab, und eine neue Empfindung erschien allmählich und scheu an der Oberfläche. Diese Empfindung war zu schrecklich, als daß sich ihr Dierdre hätte vollends hingeben können, aber sie spürte eine gewisse, keineswegs unangenehme Anspannung und zwang sich deshalb, darüber nachzudenken.
Cullys schonungslose Offenheit, mit der sie über das Unglück des Vorabends gesprochen hatte, erschreckte Dierdre zutiefst. Sie war in dem Glauben erzogen worden, daß man niemals etwas Schlechtes über Tote sagen dürfe. Als sie ein Kind war, hatte sie angenommen, das verbiete sich, weil sonst die Toten, wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gäbe, zurückkämen und sich an einem rächen würden. Später änderte sie diese Meinung, indem sie die Erkenntnis einschloß, daß a) wenn man nur nette Sachen über Tote sagte, sie vielleicht ein gutes Wort für einen einlegen würden, wenn man selbst an der Reihe war, und b) daß es einfach unehrenhaft war, Menschen anzugreifen, die sich nicht mehr wehren konnten.
Nun aber war sie bereit, wenn auch zaghaft und ein wenig ängstlich, ein Gefühl zu entdecken - ja, sogar als gegeben hinzunehmen -, sich etwas einzugestehen, wovon sie ihr Leben lang gehofft hatte, sie würde für immer frei davon sein. Sie rief sich Esslyns Benehmen den anderen Schauspielern gegenüber ins Gedächtnis zurück. Seine Herablassung und seinen Hohn; seine Rücksichtslosigkeit ihren Gefühlen gegenüber, seine unerschütterliche Ichbezogenheit und sein großspuriges, geckenhaftes Auftreten. Sein Lachen und seinen Spott, der sich gegen ihren Vater gerichtet hatte. Sie hielt den Atem an, ihre geballten Fäuste lagen in dem parfümierten Wasser, und Dierdre wurde mehr oder weniger kraß eine schreckliche neue Erkenntnis über sich selbst bewußt. Sie hatte Esslyn gehaßt. Ja. Gehaßt. Und was noch schlimmer war, sie warfroh darüber, daß er tot war.
Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie öffnete die Augen, starrte an die Decke und wartete auf eine Mißfallensbekundung Gottes. Auf einen Donnerschlag. Da man ihr als Kind eingebleut hatte, daß jedesmal, wenn sie log, ein Donnerschlag ertönen würde und es nur Gottes allesvergebende Liebe sei, die ihn davon abhielt, augenblicklich über sie hereinzubrechen, hatte sie versucht, sich diese himmlische Waffe der Vergeltung vorzustellen, aber alles, was ihrem jungen Geist dazu einfiel, war der Blitz auf der Küchentür, tausendfach vergrößert und in schimmernder Bronze. Es brach jedoch nichts auch nur annähernd Vergleichbares durch die Badezimmerdecke der Barnabys.
Bei der Erkenntnis, daß sich daran auch nichts ändern würde und sie fortan ohne Angst vor göttlicher Rache froh darüber sein konnte, daß Esslyn nicht mehr in der Lage war, jemandem Schmerz oder Ärger zuzufügen, brach eine Woge über Dierdre herein, die viel zu mächtig war, um sie nur als Erleichterung zu bezeichnen. Sie lag benommen da und konnte an diese neue Wahrheit noch nicht so ganz glauben. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand ein riesiges Joch von den Schultern genommen oder schwere Ketten von ihren Beinen und Füßen entfernt. Jede Minute war damit zu rechnen, daß sie bis unter die Decke schweben konnte. Sie fühlte sich zwar schwach, war aber weit davon entfernt, hilflos zu sein. Sie empfand ihre Schwäche vielmehr in einer Form, wie sie starken Menschen manchmal zustößt: also nicht als chronischen Zustand, sondern als Akzeptanz eines zeitweiligen dringenden Ruhe-und Erholungsbedürfnisses. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte ihren Toast gegessen.
Nach ein paar weiteren schläfrigen Minuten drehte sie das heiße Wasser auf und griff nach dem Celandine-und Marshmallow-Badeöl. Wenn schon ein Fingerhut davon so eine Wirkung hat, dachte Dierdre, was würde dann erst eine halbe Tasse davon bewirken?
Barnaby, der den Bericht vom Tatort und die Zeugenaussagen studiert hatte, saß regungslos da, starrte die Wand seines Büros an, die Lippen gespitzt und den leeren Blick auf einen imaginären Beobachtungspunkt meilenweit entfernt gerichtet. Troy, der das alles kannte, ließ sich nicht täuschen. Der Sergeant hatte auf einem der Besucherstühle (Chromgestell und Tweedpolster) Platz genommen und blickte zum Fenster hinaus auf den dunklen Regen, der gegen die Scheibe prasselte.