Er hätte vor Gier nach einer Zigarette sterben mögen, brauchte aber nicht erst auf das Nichtraucherzeichen an der Tür zu schauen, um sie gar nicht erst anzuzünden. Er war daran gewöhnt, den ganzen Tag mit einem Frischluftfanatiker eingesperrt zu sein. Was ihn dabei am meisten ärgerte, war der Umstand, daß der Chefinspektor zu seiner Zeit ein Kettenraucher gewesen war, der mindestens fünfzig Stück am Tag gequalmt hatte. Bekehrte Raucher sind eben - genauso wie bekehrte Sünder - die allerschlimmsten. Die eigene Leistung genügt ihnen nicht, dachte Troy, sondern sie fühlen sich zu allem Überfluß auch noch dazu berufen, die Uneinsichtigen zu missionieren oder zu verdammen. Und das ohne einen Gedanken an die möglichen Nebenwirkungen ihres Handelns. Als Troy an die ganze frische, kalte Luft dachte, die durch die kleinen Lungenbläschen eilte, denen ihr schützender Nikotinbelag verweigert wurde, schüttelte es ihn. Das Ende vom Lied mußte unweigerlich eine Lungenentzündung sein. Gegen diese Eventualität schützte er sich, indem er außerhalb des Büros, auf der Toilette und überall und in jeder Sekunde, in der sein Chef nicht im Gebäude war, eine Zigarette durchzog. Um diesen Tiraden etwas entgegenzusetzen, hatte er von Capstan zu Benson’s Silk Cut gewechselt und auch mit Gitanes Caporal geliebäugelt. Die Idee, französische Zigaretten zu inhalieren, hatte ihm allerdings'mehr zugesagt als die Dinger selbst, und als Maureen ihm dann auch noch erzählt hatte, die Glimmstengel stänken wie ein läufiger Iltis, war es ihm gar nicht mal schwer gefallen, sie nicht mehr zu rauchen.
Troy hatte die Aussagen ebenfalls gelesen, aber den Bericht vom Tatort noch nicht. Auch war er zugegen gewesen, als die Smys vor einer Stunde befragt worden waren. Es ging los mit David, der in einer klaren und gelassenen Weise angegeben hatte, daß er weder das Band von der Klinge entfernt, noch gesehen hätte, wie jemand anders das getan hatte. Sein Vater sagte dasselbe aus, war aber nicht ganz so ruhig. Sein Gesicht war rot, und er war laut und verwirrt. Das hieß allerdings noch lange nicht, daß er auch schuldig war. Troy wußte aus Erfahrung, daß viele unschuldige Menschen, die sich für eine formale Befragung in ein Polizeirevier begeben mußten, von ihren Gefühlen der noch nicht bestätigten Unschuld übermannt wurden. Trotzdem... Smy senior hatte sich nervös verhalten. Troy bemerkte, daß Barnaby ein undeutliches Brummen von sich gab. Er kam wieder zu sich. .
»Dieses letzte Wort, Sergeant...«
»Sir.«
»Dilettant... übel, oder?«
»Ja. Daran habe ich auch schon gedacht.« Troy wartete höflich auf ein ermunterndes Nicken und fuhr dann fort: »War vielleicht jemand dazu bestimmt worden, etwas zu tun, und er hat dann alles verpfuscht? Und war das Durchschneiden der Kehle das Ergebnis davon? Oder war vielleicht Carmichael der Stümper? Ich meine - es ist doch anzunehmen, daß er nur das getan hat, was er auch tun sollte. Eben das, was sie auch eingeübt hatten?«
»Geprobt hatten, so heißt es. Ja. Alle schienen sich einig zu sein, daß die letzte Szene so ablief wie sonst auch...«
»Also, wen könnte er dann mit dem Dilettanten gemeint haben? Ich frage mich tatsächlich, ob er das Band nicht selbst abgerissen hat.«
»Nein. Der wäre der Letzte, der jemals einen Selbstmord begangen hätte.«
»... was bedeutet, daß er es aus irgendwelchen anderen verrückten Gründen abgerissen haben müßte. Vielleicht, um jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Und dann, in der Hitze des Augenblicks - völlig von der Musik und allem anderen abgelenkt -, hat er es schlichtweg vergessen. Vielleicht wollte er damit sagen: >Ich Dilettant, ich habe alles verpfuscht!«
»Das sähe ihm aber gar nicht ähnlich.« Troy wirkte so niedergeschlagen, daß Barnaby hinzufügte: »Mir ist auch noch nichts Besseres eingefallen. Nur soviel ist klar: Er hat sich bemüht, uns mit seinem letzten Atemzug etwas zu sagen. Das muß etwas bedeuten. Und sicher etwas sehr Wichtiges, würde ich sagen. Wir sind dem nur noch nicht nachgegangen. Das hier«, und er schlug auf den Tatortbericht, »weist ein oder zwei Überraschungen auf. Zum einen, daß es auf dem Rasiermesser nur Fingerabdrücke von einer Person gibt, obwohl Dierdre es überprüft hat, ehe sie es Sweeny gab, der es, wo auch immer das gewesen sein mag, hinterlegt hat. Wir werden das natürlich noch überprüfen, aber es müßten die Fingerabdrücke des Ermordeten sein. Wir haben ja alle gesehen, wie er es zur Hand genommen und benutzt hat. Und wenn Dierdre keinen Grund hatte, ihre Fingerabdrücke abzuwischen...«
»Es sei denn, sie hat sich ausgerechnet, daß wir uns genau das denken würden, und aus ebendiesem Grund das Rasiermesser abgewischt?«
»Das bezweifle ich -« Barnaby schüttelte den Kopf. »So was verlangt eine Kaltblütigkeit, von der ich mir nicht vorstellen kann, daß Dierdre sie aufbringt. Und ich kenne sie jetzt schon seit zehn Jahren. Vor allem hat sie sehr klare Vorstellungen von Gut und Böse. Für jemanden in ihrem Alter ist sie darin sogar ziemlich altmodisch.«
»Nun ja, dann bleibt uns immer noch viel, womit wir spielen können.«
Barnaby war sich da nicht so sicher. Obwohl sich bei der Premiere jede Menge Leute auf und hinter der Bühne befunden hatten, glaubte Barnaby, daß derjenige, der die Klinge manipuliert hatte, unter der Handvoll von Leuten zu finden war, die den Toten gut gekannt hatten. Er hielt es auch für höchst unwahrscheinlich, daß einer der jungen Schüler Esslyn einen üblen Streich hatte spielen wollen, obwohl er einige Aussagen in dieser Richtung aufgenommen hatte. Auch bei den Darstellern der Nebenrollen würde er wohl kein Glück haben, denn drei von ihnen hatten den Toten vorher nicht einmal gekannt, weil sie nur für Amadeus der Truppe beigetreten waren. Obwohl er seinen Geist für diese beiden möglichen Optionen offenhielt, beschloß er, die Reihe seiner Hauptverdächtigen genauer zu untersuchen. Ganz oben, vermutete er laut, müßte die Witwe stehen.
»Da haben wir es mit einem ganzen Berg von Selbstverbrennung zu tun, Sir.«
»Das können Sie wohl laut sagen.«
»Und ich wäre auch gar nicht überrascht, wenn das Kind nicht vom Ehemann wäre. Frauen sind treulose Wesen.« Troy sprach mit einiger Bitterkeit. Er hatte vor zwei Jahren sehr offen sein Interesse an Polizistin Brierley gezeigt, nur um dann mit ansehen zu müssen, wie sie sich in der folgenden Woche in einen neuen Rekruten verliebt hatte, der noch nicht ganz aus seinem Strampelhöschen herausgekommen war, und schon steckte er in ihrem. »Und bei all diesen Schauspielern - nun ja, da weiß man doch nie, woran man ist.«
»Können Sie das etwas genauer erklären?«
»Die Sache ist die«, fuhr Troy fort, »wenn man normalerweise mit Verdächtigen spricht, sagen sie die Wahrheit oder erzählen Lügen, wenn sie etwas zu verbergen haben. Alles in allem weiß man also immer, womit man es zu tun hat. Aber diese Typen... die übertreiben, geben an und stellen sich alle bloß selbst dar. Ich meine, nehmen Sie nur diese Frau, mit der er verheiratet war. Als die Ihre Fragen beantwortet hat, war es, als würde man Jeanne d’Arc den Scheiterhaufen besteigen sehen. Es war kaum zu erkennen, was sie wirklich gefühlt hat.«
»Meinen Sie nicht, daß sie wirklich verzweifelt war?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich bin verdammt froh, daß Sie die alle schon vorher gekannt haben.«
»Aber bloß, weil jemand sein Gefühl auf eine besonders eindrucksvolle oder sogar sehr elegante Art ausdrückt, bedeutet das doch noch lange nicht, daß er unehrlich ist. Vergessen Sie das nicht.«
»Klar, Chef.«
»Und mit Ausnahme von Joyce und Nicholas sollten Sie sie doch inzwischen wirklich alle durchschauen können. Es sind nämlich schrecklich schlechte Schauspieler.«