»Ja, Vater.« David hatte ganz ruhig gesprochen. »Sie ist frei. Obwohl ich natürlich nicht gewollt habe, daß es auf diese Weise geschieht.«
Colin hatte ihm zugehört und mit Gefühlen ungläubiger Verwunderung gekämpft. Wie konnte David bloß so darüber reden? In einer derart abgeklärten und herzlosen Weise. David, der niemals einem Lebewesen hatte etwas antun können. Der Spinnen eher vorsichtig in den Garten trug, als sie zu töten. Der, als er zehn Jahre alt war und sein Hamster starb, drei Tage lang geweint hatte. Als er dann noch hinzufügte: »Ich werde anfangs sehr behutsam vorgehen müssen...«, hatte Colin das Haus verlassen, da er sich nicht traute zu antworten, und einige Stunden damit verbracht, einfach nur in Causton umherzulaufen. Dabei hatte er sich verzweifelt bemüht, eine Entscheidung zu treffen. Er wußte zwar ganz genau, was er hätte tun müssen, aber gleichzeitig war ihm klar, daß er das niemals tun könnte, und daher versuchte er, einen anderen gangbaren Weg zu finden.
Denn irgend etwas mußte er schließlich unternehmen. Er hatte sich am Dienstag morgen während Toms Vernehmung im Revier panisch gefürchtet. Wahrscheinlich mehr als David, der, als er gegen ein Uhr gefragt wurde, wie alles gelaufen wäre, bloß meinte: »Gut.« Und dann hatte er sich seelenruhig wieder seinem Essen zugewandt. Obwohl Colin nur kurz im Revier befragt wurde, war es doch sehr beunruhigend gewesen. Er hatte den alten Tom nie für besonders gescheit gehalten, aber die scharfen, durchdringenden Blicke des Chefinspektors - dessen Auftreten in keiner Weise mehr an die Person erinnerte, deren Gegenwart ihm in der Werkstatt hinter der Bühne immer so behaglich vorgekommen war - hatten ihn dazu gebracht, alles noch einmal durchzudenken. Nun, nachdem er die andere Seite dieses Mannes kennengelernt hatte, wußte Colin, daß Barnaby ein Jäger war. Er würde nachforschen, fragen, überprüfen, noch mal überprüfen, seine Wahrnehmungen sortieren, Schlüsse ziehen, das Opfer in die Enge treiben. Und würde David in der Lage sein, eine solche Prozedur durchzustehen?
Ehe er wieder zur Arbeit ging, hatte er seinem Vater erzählt, daß er schlichtweg geleugnet hatte, auch nur das geringste darüber zu wissen, wie die Klinge manipuliert worden wäre, und daß man ihm das abgenommen hatte. Colin jedoch vermutete hinter dieser geheuchelten Gutgläubigkeit bereits einen schlauen Trick. David war so arglos. Er konnte nicht erkennen, daß Tom bloß vorgab, ihm zu glauben. Außerdem war es gut möglich, daß sie gerade jetzt Kitty befragten und sie dazu brachten, ihre Komplizenschaft zuzugeben. Und das würde sie auch tun. Sie würde ihnen doch alles erzählen, vorausgesetzt, es führte nur dazu, daß es nicht ihr an den Kragen ging.
Colin schnappte sich seinen Regenmantel. Einer der Ärmel hatte sich verheddert, und er knurrte fast vor Ungeduld, als er versuchte, den Arm hineinzustecken. Wieso zum Teufel saß er eigentlich immer noch grübelnd hier herum und kaute die Lage immer wieder von neuem durch, während vielleicht genau in dieser Minute...
Er rannte hinaus und hielt nicht einmal an, um seinen Schuppen abzuschließen. Auf dem vereisten Bürgersteig geriet er ins Schlittern. Colin verfluchte sich für seine bisherige Unentschlossenheit. Er wußte es doch schon seit Stunden; als er nachts um drei durch die Straßen gelaufen war, hatte er bereits erkannt, daß es nur einen einzigen Weg gab, den er einschlagen konnte. Schließlich hatte er es Glenda vor so vielen Jahren versprochen. (»Du wirst doch nicht zulassen, daß ihm irgendein Leid geschieht? Versprichst du mir das?«) Oh! Wieso nur hatte er so lange gewartet? Als er jetzt dem Polizeirevier entgegenschlitterte und ständig ausrutschte, war Colin davon überzeugt, daß es bereits zu spät war. Daß die Polizei irgendwann im Laufe des Nachmittags David von seiner Arbeitsstelle geholt hatte und ihn gerade bearbeitete, versuchte, ihn dazu zu bringen, daß er zusammenbrach und klein beigab.
Endlich eilte er die Stufen vor dem Revier empor, verletzte sich dabei die Hände an dem gefrorenen Metallgeländer und fragte am Schalter nach Detective Chief Inspector Barnaby. Eine hübsche Polizistin mit dunklem Haar erklärte ihm, der Inspektor hielte sich derzeit nicht im Revier auf und führte ihn in einen kleinen Raum, in dem kalter Zigarettenrauch hing; die Beamtin sagte ihm, daß er dort auf den Inspektor warten könne. Sie bemerkte, daß sein Gesicht blaß war und seine Hände zitterten und fragte ihn deshalb, ob er mit jemand anderem sprechen oder eine Tasse Tee haben wolle. Aber Colin lehnte beide Angebote ab und wurde dann in Ruhe gelassen, um ein Antidiebstahl-Plakat zu betrachten und darauf zu warten, endlich den Mord an Esslyn Carmichael zu gestehen.
»Wie wohl die andere Hälfte lebt, he, Chef?« grummelte Troy gehässig, als er in die anmutig geschwungene Auffahrt zu White Wings einbog und den Wagen in einem Halbkreis in die Parkbucht schlittern ließ, wobei er einige Pfund Kies aufwirbelte. Troy fuhr schnell, beherzt und mit Vorsicht, konnte es aber einfach nicht lassen, beim Anhalten noch eine blumige Zickzacklinie zu fahren oder zumindest einen Schnörkel auf den Asphalt zu legen. Gelegentlich fand Barnaby es angebracht, ihn wegen seines extravaganten Fahrstils zu kritisieren. Dann setzte Troy jedesmal eine pikierte, ja, geradezu untröstliche Miene auf und parkte mit einer an ein Begräbnis erinnernden Exaktheit ein, die es seinem Chef schwermachte, ernst zu bleiben. Normalerweise dauerte es allerdings nur ein paar Tage, bis sich der alte Überschwang wieder einstellte. Troy hielt diese Form der Aufschneiderei für einen Teil seiner Persönlichkeit. Er war sehr von sich und seinen Fahrkünsten überzeugt und verachtete jene Holzköpfe, die den Unterschied zwischen einer cordobianischen Umkehrung und dem Anfahren am Berg nicht kannten. Da er wieder mal eine Strafpredigt auf sich zukommen sah, löste er schnell seinen Sicherheitsgurt und sprang aus dem Wagen, ehe der Chef noch so richtig in Fahrt kommen konnte.
In diesem Augenblick erklang ein durchdringender Schrei aus dem Inneren des Hauses. Gefolgt von einer ganzen Serie von Schreien. Troy sprintete auf die fürstliche Eingangstür zu, versuchte sie aufzudrücken und stellte fest, daß sie abgeschlossen war. Daher hämmerte er mit den Fäusten dagegen, wobei er rief: »Aufmachen! Hier spricht die Polizei!« Barnaby war gerade an seiner Seite angelangt, als sich ein Schlüssel im Schloß umdrehte und die Tür nach innen aufging. Kitty stand in einem hübschen blauen Hausmantel dahinter mit einem außergewöhnlichen Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie schien vollkommen außer sich zu sein. Ein bißchen verängstigt, ein bißchen ärgerlich, aber noch unentschlossen, so als wüßte sie nicht recht, ob sie nun lachen oder weinen sollte.
Sie stand mitten in der Eingangshalle, strich sich durch die Locken und trug eine Miene gespielten Entsetzens zur Schau.
»Was ist hier los?« fragte Barnaby. »Wer hat da geschrien?«
»... Ich, wenn Sie es genau wissen wollen...«
»Und wieso?« Ein eisiger Wind blies ins Haus. Troy schloß zwar die Tür, aber es zog immer noch. Barnaby schlenderte in die Küche. Die Hintertür stand sperrangelweit offen. »Wer ist denn sonst noch hier?«
»Niemand.« Sie trippelte zur Gartentür und schloß sie. »Brrr.«
»Und wessen Wagen steht da draußen?«
»Ich werde mir gleich mal einen Kaffee kochen, um meine Nerven zu beruhigen. Möchten Sie auch einen?«
»Kitty.« Barnaby hielt sie fest. »Was zum Teufel war hier los?«
»Nun ja... Sie werden es mir nicht glauben, Tom, aber ich denke, wir haben den Mörder gefunden.«
»Vielleicht kann ich den Kaffee kochen, Mrs. Carmichael?« säuselte Troy mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Auf mich machen Sie ganz den Eindruck, als könnten Sie ein wenig Hilfe gut gebrauchen.«
»Oh, wie süß.« Kittys ungeschminkte Lippen erwiderten das Lächeln. Troy stellte mit einer aufbrausenden Woge von Begeisterung fest, daß unter diesen sonst so saftig mit Lippenstift bemalten Amorbögen, die er gerade erst gestern abend so bewundert hatte, echte waren. Sogar noch saftiger und doppelt so sexy. »Aber das mache ich besser selber«, fuhr sie fort. »Es kommt auf das Augenmaß an, das Gerät... es könnte in unerfahrenen Händen alles in die Luft fliegen.« Obwohl sich ihre Stimmlage kaum verändert hatte, schaffte sie es, den Eindruck zu vermitteln, daß sie sich sicher war, Sergeant Troys Hände wären alles mögliche, bloß nicht unerfahren, und daß sie, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommen würde, mehr als darauf vorbereitet wäre, ihre Theorie zu überprüfen. »Dauert nur ein Momentchen.«