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Besorgt glitt Colin auf seinen Stuhl zurück und sank in sich zusammen. Tom hatte kein einziges Wort mitgeschrieben! Nach dieser Feststellung bemächtigte sich seiner eine schreckliche Erkenntnis. Der einzige Grund dafür konnte doch nur sein, daß Tom ihm nicht ein einziges Wort abgenommen hatte. Er hatte zwar dagesessen, genickt, gekritzelt, Fragen gestellt, ihm dabei aber die ganze Zeit nur etwas vorgespielt. Bloß so getan, als würde er die Sache ernst nehmen. Colins Beine fingen an zu zittern, und seine Füße scharrten über den Linoleumboden. Er preßte seine Beine fest gegen den Stuhl, um sie ruhig zu halten, und spürte, wie sein Mund voller Galle war. Ihm würde gleich übel werden. Oder er würde das Bewußtsein verlieren. Ehe ihm weder das eine noch das andere zustoßen konnte, trat Barnaby ins Zimmer, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sah Colin besorgt an.

»Du siehst etwas blaß um die Nase aus. Bist du sicher, daß du nichts trinken willst?«

»... Einen Schluck Wasser vielleicht...«

»Können wir bitte ein Glas Wasser haben?« sagte Barnaby in seine Sprechanlage. »Und ich hätte gern auch noch etwas Tee.«

Die Getränke wurden gebracht. Colin nippte langsam an dem Wasser. Er fragte: »Bist du denn nicht nach draußen gegangen, um Tee zu bestellen?«

»Nein, ich habe einen Transport organisiert.«

»Aha.« Colin stellte sein Glas auf den Tisch. Er brauchte dringend Zeit zum Nachdenken. Als er sich zwang, seine Aufmerksamkeit auf das Geständnis zu lenken, wurde ihm sofort klar, wo er sich vertan hatte. Es lag am Mordmotiv. Kein Wunder, daß Tom das nicht geschluckt hatte. Wenn Colin an der Stelle des Chefinspektors gewesen wäre, hätte er es auch nicht geglaubt. Wie grotesk - jemanden zu töten, bloß weil er zum eigenen Sohn unfreundlich gewesen war. Der noch dazu längst ein erwachsener Mann war. Hätte er sich doch bloß etwas besser auf das alles hier vorbereitet, ging Colin mit sich ins Gericht. Aber es war ja noch nicht zu spät. Jetzt begriff er, wie er die Dinge richtigstellen konnte und was er von Anfang an hätte sagen sollen.

»Die Wahrheit ist die, Tom«, sprudelte es unbeholfen aus ihm heraus, »David hat sich in Kitty verliebt. Du hast ja gesehen ... du hast ja selbst im Publikum gesessen... wie brutal Esslyn mit ihr umgesprungen ist. Er hatte es heraus gefunden, verstehst du. Und ich hatte Angst. Ich hatte Angst um sie und um David. Esslyn war niederträchtig. Ich dachte wirklich, er würde den beiden etwas antun.«

»Und deshalb bist du ihm zuvorgekommen?«

»Ja.«

»Nun... das hört sich schon besser an.«

»Ja, ich habe es dir nicht gleich gesagt, weil ich dachte, ich könnte die beiden da irgendwie raushalten.«

»Dieses Feingefühl spricht für dich.« Barnaby nahm einen großen Schluck aus seiner Teetasse. »Da ist nur ein klitzekleiner Haken an der Sache. Esslyn hat geglaubt, seine Frau hätte eine Affäre mit Nicholas.«

»Mit Nicholas?«

»Aber das konntest du natürlich nicht wissen.«

»Ist das wahr?« Colin warf Barnaby einen mißtrauischen Blick zu.

»Nein. Alles scheint dafür zu sprechen, daß David tatsächlich der besagte Liebhaber war. Übrigens - wo hat er eigentlich gesteckt, als du diesen faulen Zauber betrieben hast?«

Colin blieb der Atem in der Kehle stecken. Er starrte Barnaby an wie das Kaninchen den Marder. Colin spürte, daß die Haut in seinem Gesicht brannte, und er wußte, daß sie rötliche Flecken aufwies. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Er konnte nicht denken. Sein Gehirn war wie weichgekocht. Wo hatte David tatsächlich gesteckt, als das alles passiert war? Wo um Himmels willen hatte sich David bloß herumgetrieben? Nicht in den Kulissen und (offensichtlich) auch nicht in der Werkstatt. Oben war er ebenfalls nicht gewesen. In der Garderobe! Natürlich.

»In der Garderobe. Das kann dir jeder bestätigen.«

»Weshalb sollte sich jemand für ihn verbürgen müssen?«

»Oh - ich weiß nicht. Nur... falls du es überprüfen möchtest.«

»Ich verstehe.« Barnaby vollendete nun die zusammengerollte Spitze des Asplenium trichomanes und gab ihr den letzten Schliff. »Ich habe das Gefühl, ich sollte dir sagen, daß wir im Theater versucht haben, einen Streifen Tesafilm die Toilette runterzuspülen, und es hat beim besten Willen nicht geklappt.«

»... Oh... im Ernst?... Ja... entschuldige... mein Gedächtnis ... ich habe es aus dem Fenster geworfen.«

»Colin, jetzt hör mir mal gut zu.« Barnaby legte den Stift weg und lächelte seinen Kollegen nicht gerade herzerwärmend an. »Ich habe hier hinter meinem Schreibtisch im Laufe der Zeit schon eine Menge Lügen gehört, aber wenn ich einen Preis für die schlechteste vergeben müßte, dann würdest du ihn bekommen.«

Er beobachtete Colins Gesicht, in dem das Gemisch aus Besorgnis, Angst und anderen Emotionen bereits deutliche Spuren hinterlassen hatte. Es schien sich wie ein Ballon aufzublähen. Die Haut spannte sich über den Wangenknochen und dem Kiefer, die Augen schossen umher wie kleine gejagte Tiere. Colin schien keine Kontrolle mehr über seinen Mund zu haben. Seine Lippen bewegten sich fortwährend in kleinen Zieh-und Drückbewegungen. Er schwankte auf seinem Stuhl, als sei ihm schwindlig.

Und schwindlig war ihm auch. Colin wankte nämlich unter der Gewalt eines Sturms, der von zwei Seiten her blies. Er begriff jetzt mit eisiger Klarheit, daß es das Schlimmste gewesen war, was er hätte tun können, hierher ins Revier zu kommen und eine Falschaussage zu machen. Nicht nur, weil er kläglich darin versagt hatte, seinen Sohn zu schützen, sondern auch, weil ihm bei ein klein wenig Nachdenken hätte klar werden müssen, daß David niemals schweigen würde, wenn sein Vater, der nie etwas Kriminelles getan hatte, verhaftet und vielleicht sogar ins Gefängnis geworfen werden würde. Colin sah nun ein, daß er den Jungen durch seinen Versuch, ihn zu schützen, erst recht in den Mordfall hineingezogen und in Verdacht gebracht hatte. Er schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen.

Barnaby erhob sich von seinem Stuhl, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf die Kante. Dann legte er eine Hand auf Colins Schulter und tröstete: »Weißt du, vielleicht irrst du dich ja.«

»Nein, Tom!« Colin warf dem Chefinspektor einen flehentlichen und hilfesuchenden Blick zu. Grundlose Erwartungen ließen daraus einen wilden Blick werden. Er flehte Barnaby selbst in diesem späten Stadium noch an, einen magischen Zaubertrick vorzuführen, obwohl sein verräterisches Geständnis zwischen ihnen stand, zwar unausgesprochen, doch so fest wie ein Fels in der Brandung. Er sollte ihm nur sagen, daß es nicht so gewesen sei. Als Barnaby weiterhin schwieg, gab Colin einen einzigen schrecklichen trockenen Schluchzer von sich, der aus der Tiefe seiner Eingeweide zu kommen schien, und schrie heraus: »Verstehst du... ich habe gesehen, wie er es getan hat. Ich habe ihn tatsächlich dabei beobachtet, als er es getan hat.«

Zehn Minuten später, als Colin noch einen Tee genommen hatte und sich bis zu einem gewissen Grad wieder unter Kontrolle hatte, schilderte er Barnaby, was er während der Premiere hinter den Kulissen gesehen hatte. Er sprach mit einer emotionslosen Stimme und ließ den Kopf hängen, so als schämte er sich zutiefst, überhaupt zu reden. Barnaby registrierte die Informationen geduldig und ohne ersichtliche Gefühlsregungen. Als Colin mit seinem Bericht am Ende war, vergewisserte er sich: »Bist du wirklich sicher, daß er sich an der Klinge zu schaffen gemacht hat?«

»Was sonst hätte er denn dort tun sollen, Tom? Er hat sich so verstohlen umgeschaut, als wollte er sichergehen, daß ihn auch ganz bestimmt niemand beobachtete. Er hat sich über den Requisitentisch gebeugt. Und dann ist er in die Toilette gegangen, wieder rausgekommen und noch mal an den Tisch zurückgekehrt.«

»Aber du hast nicht gesehen, daß er die Klinge berührt hat?«

»Äh... nein. Ich war ja auf der anderen Seite der Bühne, hinter dem Kamin. Und natürlich hatte er mir den Rücken zugekehrt...« Colin blickte auf, und dann fragte er mit einem leisen Hoffnungsschimmer in der Stimme: »Glaubst du... o Tom... du meinst, ich habe mich vielleicht geirrt?«