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Die Realität sah freilich ganz anders aus. Es war unglaublich ruhig. Als Dierdre durch einige Schwingtüren gegangen war und nach der Station mit dem Namen Alice Kennedy Baker Ausschau hielt, glaubte sie beinahe, der Ort sei unbewohnt. Der dicke, schimmernde Linoleumboden in der Farbe gekochten Kalbfleischs verschluckte jeden Klang ihrer Schritte. Die Wände waren in einem schmutzigen Gelb gestrichen, und an den Heizungen hatte die Farbe schon Sprünge vom Rost und blätterte ab. Die Heizkörper selbst gaben allerdings viel Wärme ab.

Aber all diese Dinge, die eigentlich schon deprimierend genug wirkten, waren gar nichts gegen diese Atmosphäre tödlicher Verzweiflung, die hier in der Luft lag. Dierdre fühlte, wie sich ihre Lungen damit füllten, so als wäre es ein gefährlicher Nebel. Es roch nach verfaultem altem Gemüse und vermoderten alten Menschen. Es stank nach Urin, nach Fisch und, noch intensiver, nach krankem, synthetischem Lavendel, der hier überall versprüht worden war, um den Eindruck einer normalen häuslichen Atmosphäre entstehen zu lassen. Eine Krankenschwester, in Weiß und Zuckertütenblau gekleidet, fragte sie, ob sie sich verlaufen hätte, und zeigte ihr dann den richtigen Weg.

Die Kennedy-Baker-Station schien menschenleer zu sein, bis auf eine Krankenschwester aus Mittelamerika, die an einem kleinen Tisch mit einem Telefon in der Mitte saß. Als Dierdre hereinkam, stand sie auf und berichtete, daß die Patienten im Sonnenzimmer seien. Sie erklärte Dierdre, warum man sie nicht zu Rate gezogen hatte, als die Entscheidung getroffen worden war, ihren Vater hier einzuweisen. Offensichtlich hatte man es gar nicht für nötig befunden, ihre Genehmigung einzuholen, denn er war zu seiner eigenen Sicherheit und der anderer Menschen ins Walker überführt worden. Falls Dierdre jedoch mit dem Arzt reden wolle, um mehr darüber zu erfahren, könne man einen Termin vereinbaren.

»Ihr Vater fühlt sich hier sehr wohl, Liebes«, fügte sie hinzu und führte Dierdre in das Sonnenzimmer, das am anderen Ende der Abteilung lag. »Alles tipptopp.«

Der Raum war mit einem grauen, schmutzigen Nadelfilz -teppich ausgelegt, ein paar schmuddelige Sessel standen herum, und an der Wand hing in wahrhaft elektrisierendem Blau ein schlecht gemachtes und kaum zu entschuldigendes Ölporträt der Gründerin dieses Krankenhauses, die generös auf die versammelte Gruppe hinabsah. In dem Raum befanden sich fünf Menschen: drei ältere Frauen, ein junger Mann und Mr. Tibbs, der am Fenster saß und einen fremden Pyjama sowie einen brutal gemusterten Morgenmantel anhatte, der wohl eher als Stimulans denn zur Beruhigung entworfen worden war.

»Ihre Tochter ist hier, um Sie zu besuchen, Mr. Tibbs. Ist das nicht nett?« redete die Krankenschwester sehr entschieden auf ihn ein, als rechnete sie mit seinem Leugnen.

Dierdre schob einen niedrigen Stuhl mit zerkratzten Holzlehnen neben seinen, setzte sich und sagte: »Hallo, Daddy. Wie geht es dir?«

Mr. Tibbs starrte weiterhin aus dem Fenster. Er sah alles andere als tipptopp aus. Seine Kiefer bewegten sich auf eine traurige, verlorene Art und waren mit grauweißen Bartstoppeln und Spuren getrockneter Tränen bedeckt. Dierdre sprach weiter: »Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht.«

Sie packte ihre Tasche aus und legte seine Toilettenartikel, etwas Seife und eine Schachtel Kekse auf seinen Schoß. Den besonderen Leckerbissen, türkischen Honig, hielt sie dagegen bis zum letzten Moment zurück, um ihm den Abschiedsschmerz zu versüßen. Er sah verwirrt auf die Sachen herab und hob sie dann alle nacheinander mit großer Behutsamkeit hoch, so als wären sie aus Glas. Er konnte offensichtlich nichts damit anfangen. Die Seife beispielsweise versuchte er in den Mund zu stecken. Dierdre nahm ihm die Sachen wieder ab und legte sie auf den Boden.

»Also gut, Daddy«, sagte sie und gab sich alle Mühe, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen, »wie geht es dir denn... ?« O Gott, dachte sie, das habe ich ihn doch schon gefragt. Was blieb überhaupt noch zu sagen? Und was war das für eine unglaubliche Frage, die sie da stellte? Sie, die Jahre damit zugebracht hatte, ruhig und geduldig mit diesem alten Mann im Korbstuhl, der so eine seltsame Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, zu reden und ihm zuzuhören. Sie konnte ihm noch nicht einmal von dem Hund erzählen, denn das würde möglicherweise seine Erinnerung an die schreckliche Nacht am See wieder wachrufen. Also hielt sie nur seine Hand und sah sich in dem Raum um.

Der junge Mann in der ausgebeulten Flanellhose trommelte unvorstellbar schnell mit den Fingerspitzen auf seinen Knien herum. Er saß neben einer älteren Frau, die den verschleierten, lauernden Blick eines Raubtiers hatte. Dann war da noch eine klobige, kahlköpfige Frau mit Warzen, die sich wie roter Puffreis über ihre Arme verteilten; sie hatte die Handflächen nach innen gedreht, so als hielte sie ein unsichtbares Wollknäuel. Die dritte Frau war nur ein Bündel aus Kleidern (Karos, Punkte, Streifen und nach unten geschobene Wollstrümpfe) mit einem Röhrchen, das unter dem Rock hervorkam und in einem Plastikbeutel mit einer gelben Flüssigkeit endete, der an ihrem Stuhl befestigt war. Da saßen sie nun, jeder in einer undurchdringlichen Wirklichkeit aus Drogen und Träumen eingeschlossen. Man konnte noch nicht einmal sagen, daß sie so wirkten, als warteten sie auf etwas, denn der Akt des Wartens setzt ja das Wissen voraus, daß sich das Leben möglicherweise in absehbarer Zeit ändern wird. Dierdre schob ihren Ärmel zurück und sah auf ihre Uhr. Sie war erst seit drei Minuten in dem Sonnenzimmer.

»Wenn du noch etwas anderes haben möchtest, bringe ich es dir gern bei meinem Besuch mit, Daddy.«

Mr. Tibbs horchte auf und beantwortete ihre Bemerkung rasch mit: »Sie sehen lebendig aus, Schwester. Zwei und sechs.« Er saß auf der äußeren Kante seines Stuhls, so als würde er irgendein Spiel spielen. Plötzlich hatte er den augenzwinkernden Ausdruck eines Menschen, der einem mitteilen will, man müsse schon früh aufstehen, wenn man ihn bei etwas ertappen will. Seine falschen Zähne schnappten, so als führten sie ein Eigenleben, und sein ganzes Gesicht verzog sich zu koboldhafter Gerissenheit. Dierdre bedeckte ihr Gesicht für einen langen Moment mit beiden Händen, dann zog sie die Schachtel mit dem türkischen Honig hervor. Sofort veränderte sich sein Gesicht wieder. Es verlor den Ausdruck der besagten Cleverheit und wurde rot und zornig. Er warf einen grimmigen, ja, fast gequälten Blick auf die zarte runde Dose, so als hätte sie jeden Moment vor, ihn anzugreifen. Dann, als seine Tochter ihm das Päckchen zaghaft hinhielt, vollführte er einen Aufwärtshaken mit der geballten Faust, schlug es hoch in die Luft und halb durch den Raum. Puderzucker flog wie Gewehrrauch in kleinen Wölkchen hinterher. Rosarote und nicht ganz weiße Stücke aus duftendem Gelee purzelten überall auf den Boden. Mit einem schrillen Schrei rannte das Kleiderbündel los, nahm sich ein Stück, rieb es an ihrem auf Halbmast sitzenden Schlüpfer ab und steckte es im ganzen in ihren Mund. Die Frau mit den Warzen sammelte den Rest auf und drückte die Süßigkeiten mit aller Kraft zu einem Gelatineklumpen zusammen, den sie dann in den gekrümmten Händen hielt. Sie knabberte daran herum wie ein Eichhörnchen an einer Nuß. Der junge Mann hatte derweil angefangen, wütend auf sich selbst einzuschlagen und sich zu kratzen, so als würde er bei lebendigem Leib aufgefressen werden.

Dierdre konnte das alles nicht mehr aushalten. Sie band den Gurt ihres Mantels zu und begann, sich die Handschuhe anzuziehen. Ihr Vater war wieder in seine anfängliche Lethargie verfallen und starrte dumpf aus dem Fenster. Ich kann hier nichts für ihn tun, dachte sie. Ich bin ihm keine Hilfe. Ich bin überflüssig. »Ich komme bald wieder, Daddy... am Sonntag...«

Sie wankte in die eigentliche Station hinaus. Ehe sie die Schwingtüren erreicht hatte, hörte sie noch, wie ihr Vater seine Stimme erhob und sein liebstes Kirchenlied sang, »The Old Rugged Cross«. Aber die Worte waren seltsam verdreht und einige davon sogar obszön.