»Hmm.« Nicholas löffelte die Suppe in sich hinein. »Das schmeckt aber nicht sehr nach Tomaten, Avery.«
»Was für ein undankbarer Banause«, murrte sein Gastgeber. »Aber was soll man von einem erwarten, dessen Geschmacksnerven schon derart durch Monosodiumglutamat betäubt sind?«
»Ich kenne das Stück nicht«, sagte Nicholas. »Wie ist es denn eigentlich?«
»Doppelt so lang wie Klein Eyolf, aber ohne die Lacher«, erläuterte Avery. »Und ohne die Steptanznummern.«
»Es ist wundervoll. Ein russischer Klassiker.«
»Ich glaube nicht, daß es mir Freude machen würde, in einem russischen Klassiker von Harold dirigiert zu werden. Der wird uns alle auf Samowars steigen lassen. Ich denke, ich werde mich schon vorher davonmachen.«
»Solange die Ermittlungen laufen«, warf Tim ein, »darfst du vielleicht gar nicht gehen.«
»Mensch.« Nicholas schabte seine Schale aus und hielt sie für einen Nachschlag hin. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Ich vermute, wir stehen alle unter Verdacht. Die Anwesenden natürlich ausgeschlossen.«
»Wir haben immer wieder über den möglichen Schuldigen nachgedacht«, berichtete Avery und schwang die Schöpfkelle. »... du hast diese Suppe nicht verdient - aber wir haben keine Antwort gefunden.«
»Unsere gegenwärtigen Lieblingstäter sind die Everards.«
»Fangt mir bloß nicht mit denen an«, stöhnte Nicholas und befühlte vorsichtig seine geschwollene Nase.
»Es war nicht sehr professionell von Tom, daß er dir das erzählt hat«, urteilte Tim. »Ich dachte immer, die Polizei täte so etwas nicht, weil die Aussagen streng vertraulich wären.«
»Was haben sie abbekommen?« erkundigte sich Avery.
»Beide ein blaues Auge und einer eine dicke Lippe.«
»Gib nicht so an, Nicholas.«
»Er hat mich gefragt! Übrigens, wieso stehen sie oben auf der Liste? Sie waren doch die Hofkriecher.«
»Eine widerliche Position, Hofkriecher«, sagte Avery und reichte die immer noch warmen Brotscheiben herum. »Du mußt eine Person ganz schön hassen, vor der du permanent zu kriechen hast.«
»Nicht unbedingt«, korrigierte Nicholas. »Schwache Menschen respektieren die Stärkeren oft mehr als sich selbst. Sie fühlen sich sicher, wenn sie hinter jemandem herkriechen können.«
»Aber du hältst doch sicher die Everards nicht für schwache Menschen, Nico?« hakte Tim nach.
»Na ja... doch... du nicht?«
»Absolut nicht.«
»Der Verdacht wäre verständlich, wenn er sie hätte loswerden wollen«, fuhr Nicholas fort, »diese widerlichen kleinen Parasiten. Aber umgekehrt. Ich denke immer noch, daß es Kitty war.«
»Und was ist mit Harold?« fragte Avery.
»Natürlich sähe auch ich, genauso wie jeder andere, es nur zu gern, wenn Harold es getan hätte. Abgesehen davon, daß er weder ein Motiv noch die Gelegenheit dazu hatte, wäre Harold der perfekte Kandidat.« Nicholas schlürfte seinen letzten Löffel Suppe. »Diese Suppe ist wirklich toll, Avery.«
»Schön, aber du bekommst dennoch nichts mehr davon«, rief Avery und räumte die leeren Suppenteller ab, »sonst hast du nämlich keinen Platz mehr für die anderen leckeren Sachen.«
Avery schüttete die Soße, die nach Butter und Erdnüssen duftete, in eine Sauciere und nahm seine flachen chinesischen Teller aus dem Ofen. Er liebte es, sie zu benutzen. Auf ihrem Boden waren feine bronzene Chrysanthemen aufgemalt, und kleine blaugrüne Figuren, die von einem Goldrahmen umgeben waren, gingen ihren orientalischen Geschäften nach - in einer Welt aus winzigen Bäumen und kurzen quadratisch weißen Flüssen, deren Wellen sich so eng kräuselten wie kleine weiße Feuerwerkskörper, die zeitlich versetzt losgingen. Avery hatte großes Vergnügen daran, diese exquisiten Kunstwerke erst verschwinden zu lassen und sie dann während des Essens wieder zum Vorschein zu bringen. Es waren die einzigen Stücke, die er niemals in die Spülmaschine tat, und es war auch nur ihm persönlich erlaubt, sie zu spülen. Sie waren ein Geburtstagsgeschenk von Tim, als sie Urlaub in Redruth gemacht hatten. Daher waren die Teller doppelt wertvoll. Nun brachte er die Schalen mit den gewellten Scheiben kroß gebratenen Schweinefleischs und huschte um den Tisch herum, um vor jeden eine hinzustellen.
Tim sagte: »Ich wünschte, du würdest dir nicht immer soviel Mühe machen«, derweil Nicholas schnüffelte und schnupperte, »Ah... Bistowürfel.« Avery beugte einen Moment den Kopf, aber mehr aus Erleichterung darüber, daß er seine Arbeit gut gemacht hatte, denn als Dank für die empfangenen Segnungen. Avery reichte Nicholas die Sauce mit gehörigem Abstand über die brennende Kerze.
»Du brauchst sie nicht so hoch zu hieven«, spöttelte Tim, »es ist doch keine Hostie.«
Der Tignanello wurde geöffnet und ausgeschenkt. Tim hob sein Glas. »Auf Nicholas. Und das Central.«
»Oh, ja...« Avery prostete Nicholas zu, der etwas verunsichert grinste. »Du kommst ganz groß raus, bevor du fünfundzwanzig bist, oder ich will nicht mehr Avery heißen. Und vergiß niemals - wir glauben an dich.«
»Das werde ich bestimmt nicht vergessen.« Nicholas lächelte und wirkte doch etwas niedergeschlagen. »Und ich bin euch für alles so dankbar. Das Zimmer... eure Freundschaft ... für alles...«
»Du brauchst nicht dankbar zu sein«, entgegnete Tim. »Schick uns einfach nur zu all deinen Premieren Karten für die erste Reihe im ersten Rang.«
»Glaubst du... die Götter werden all meine Gebete erhören?« Der beabsichtigte Sarkasmus war nur teilweise geglückt. Nicholas’ Stimme zitterte.
»Nico - du bist so naiv«, tadelte Tim lächelnd. »Unsere Gebete zu erhören, das ist doch gerade die Art der Götter, uns zu bestrafen.«
»Ach du meine Güte, das wird doch nicht etwa wiedder einer deiner weltverneinenden Abende werden? Das könnte ich heute nicht ertragen.«
Aber Avery scherzte nur. Er schien die Zufriedenheit in Person zu sein, strahlte, und seine kleinen blauen Augen zwinkerten. Er fing an, sich zu entspannen. Den ganzen Tag über war er wegen seines Horoskops sehr vorsichtig gewesen und nahezu auf Zehenspitzen herumgeschlichen, denn obwohl die Prophezeiung insgesamt recht erfreulich gewesen war, hatte sie doch mit der Bemerkung geendet: »Es könnte bei Ihnen zu Hause allerdings Reibungen geben.« Aber, dachte Avery, um neun Uhr dreißig dürfte der Vogel des bösen Omens sicher schon wieder in seinem Nest sein und die Runen für den nächsten Tag lesen.
»Ist das Essen in Ordnung?« erkundigte er sich mit gespielter Besorgnis.
»Mein Liebster, es ist absolut wunderbar.« Tim streckte sich, und seine feinen El-Greco-Finger ruhten kurz und leicht auf Averys Arm. Dessen Gesicht leuchtete mit der vollen Kraft seiner Leidenschaft, und sein Herz klopfte. Tim nannte ihn sonst nie bei einem Kosenamen oder berührte ihn, wenn andere Menschen anwesend waren, und Avery hatte rasch begriffen, daß er sich genauso vorsichtig zu verhalten hatte. Natürlich, es war bloß Nico, aber trotzdem...
Avery atmete tief und langsam ein und genoß den würzigen Geruch des Fleischs, den zarten Duft des Jasmins in seinem runden Korb, das Aroma des Weines und den leicht bitteren Geruch des heißen Kerzenwachses. Es waren nicht bloß flüchtige Eindrücke seines Geruchssinns, sondern sie reichten viel tiefer, so als hätte man die Gerüche in seinen Blutkreislauf gespritzt, wo sie sich nun langsam in seinem ganzen Körper ausbreiteten. Er brach ein Stück Brot ab und steckte es in den Mund. Es war wie das Brot der Engel.
Das Telefon klingelte. Alle stöhnten. Avery, der am nächsten saß, schob seinen Stuhl zurück und stand mit dem Glas in der Hand auf, um den Hörer abzunehmen.
»Hallo?... Oh, hallo, Liebes.«
»Wer ist dran?« fragte Tim mit lautlosen Bewegungen seiner Lippen.
Avery drückte die Taste, mit der er die Leitung unterbrechen konnte, so daß der Anrufer nichts mithörte, dann antwortete er: »Die böse Hexe aus dem Norden.«