»Mein Beileid.«
»Tim läßt dir herzliche Grüße ausrichten, Rosa.«
»Und ich auch.«
»Und Nicholas auch. Wir haben gerade ein wahrhaft göttliches... oh, in Ordnung. Ich bin schon still. Du brauchst nicht gleich grob zu werden. Man muß doch schließlich diese Eröffnungsrituale abhalten, sonst könnten wir ja wieder auf die Bäume zurück... und den Mund halten, wenn es sein muß.« Er drückte wieder auf die Taste. »Übellaunige alte Schachtel.«
Die beiden Männer am Tisch tauschten Blicke miteinander aus. In Tims Augen drückte sich eine Spur von Belustigung aus, aber in erster Linie Resignation. Nicholas’ Blick dagegen war nahezu gönnerhaft und herablassend. Ein Blick, den er zu Beginn ihrer Bekanntschaft noch nicht gehabt hatte. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit wieder Avery zu, dessen Gesicht die personifizierte Begeisterung war. Seine weichen Lippen, die von dem braunen Satay entzückend karamellfarben waren, hatte er zu einem O gerundet.
»...Meine Liebe«, rief er, »aber haben wir das nicht immer gesagt? Also, ich habe es jedenfalls gleich vermutet... bist du sicher... gut, das erklärt alles... natürlich werde ich das... und du, halte mich bitte auf dem laufenden.« Er legte auf, trank einen großen Schluck Wein und eilte zum Tisch zurück. Er platzte vor Neuigkeiten und blickte von Tim zu Nicholas und sah dann wieder Tim an. »Das errätst du nie.«
»Wenn es in unserer Sprache vier ärgerlichere Worte als diese gibt«, meinte Tim, »dann habe ich sie bisher noch nicht vernommen.«
»Nun komm schon«, drängte Nicholas ebenfalls ziemlich gespannt, »was hat sie gesagt?«
»Die Polizei hat David Smy festgenommen.«
Avery lehnte sich voller Befriedigung über die Wirkung seiner Worte zurück. Nicholas schnappte vor Verwunderung nach Luft. Tims Gesicht, das in dem Kerzenlicht golden und elfenbeinfarben schimmerte, erblaßte zu einer Mischung aus Weiß und Grau. Er fragte: »Woher weiß sie das?«
»Sie hat ihn gesehen, als sie auf dem Weg zur Bücherei war. Da ist ein Polizeiwagen draußen vor dem Revier vorgefahren, und zwei Bullen haben ihn hineingeführt.«
»Hatten sie ihm eine Decke über den Kopf gezogen?«
»Sei doch nicht so verdammt albern, Nicholas. Wie zum Teufel hätte sie denn wissen sollen, daß es David war, wenn er eine Decke über dem Kopf gehabt hätte?«
»Aber das machen sie doch immer«, beharrte Nicholas mit sturer Hartnäckigkeit, »wenn sie einen Schuldigen haben.«
»Also wirklich. Manchmal glaube ich, man sollte deine Denkprozesse in einem Museum für medizinische Mysterien ausstellen.«
»Laß den Jungen in Ruhe.« Tims Stimme ließ eisige Kälte über die gerade noch so festliche Runde herabsinken. »Er hat doch bloß zuviel getrunken.«
»Oh... ja... tut mir leid.« Avery nahm sein Glas und stellte es dann nervös wieder hin. Seine Hochstimmung schwand rasch. Der letzte Rest verflüchtigte sich gerade. Er sah Tim an, der ihn aber nicht anblickte, sondern durch ihn hindurch glotzte, so als existiere er überhaupt nicht. Avery senkte den Blick auf die schimmernde Pfütze Erdnußsauce, nahm seinen Löffel, der klappernd gegen den vergoldeten Rand der Schale stieß, und probierte ein wenig davon. Sie war fast kalt.
»Soll ich sie aufwärmen, Tim... was meinst du? Oder soll ich den Nachtisch bringen?«
Tim antwortete nicht. Er hatte sich in dieser ganz bestimmten Form abgeschottet und sich in sich selbst zurückgezogen, vor der Avery immer graute. Er wußte, daß Tim dieses Verhalten nicht als eine Art Strafe an den Tag legte. Es geschah unbewußt, so unabsichtlich, daß es beinah unfreiwillig wirkte, und dennoch fühlte sich Avery unvermeidlich jedesmal wieder dafür verantwortlich. Er wandte sich seinem Gast zu: »Möchtest du jetzt den Nachtisch haben, Nico?«
Nicholas lächelte und zuckte die Achseln. Er wirkte ein wenig überfordert und zutiefst verlegen, so als hätte er sich irgendeines groben Verstoßes gegen die Etikette schuldig gemacht. Dabei dachte Avery, bin doch ich derjenige, dem der Fauxpas unterlaufen ist. Widerlich, haarsträubend und gefühllos hatte es wirken müssen, wie er Rosas Neuigkeiten aufgenommen hatte. Mit welch lüsternem Genuß war er an den Tisch zurückgeeilt, um seine Information loszuwerden, als sei sie ein köstlicher Leckerbissen, den er unbedingt mit den anderen teilen mußte. Wenn er auch nur einen Augenblick nachgedacht hätte, wäre er anders damit umgegangen. Denn trotz allem war es ein Freund, über den sie sprachen. Sie alle mochten David und seine freundliche, stille und bedächtige Art. Und jetzt würde er vielleicht ins Gefängnis kommen. Für Jahre. Kein Wunder, daß Tim, der von Natur aus sehr sensibel war, sich von diesem schmierigen, sensationsgeilen Gehabe abwandte.
So litt der arme Avery im stillen und räsonierte über die Gründe und Argumente für Tims Verhalten. Dabei bemerkte er gar nicht, daß es noch eine weitaus besorgniserregendere Ursache für das Schweigen seines Freundes gab. Daß vielmehr seine kleine heile Welt, in der er sich trotz des ständigen leichten Herzflatterns aus Sorge und Eifersucht im Grunde genommen recht sicher fühlte, kurz davorstand, in Stücke zu brechen.
»Nun...«, begann er und zwang Fröhlichkeit in seine Stimme. »Es hilft ja nichts, deprimiert zu sein. Also... Rosa hat doch nur gesehen, wie er hineingegangen ist... was bedeutet das schon? Vielleicht haben sie ihn nur darum gebeten, ein oder zwei offene Fragen zu beantworten. Vielleicht hilft er ihnen nur bei ihren Ermittlungen.« Avery wünschte, er hätte das nicht gesagt. Er war sich sicher, irgendwo gelesen zu haben, daß die Polizei mit dieser Formulierung signalisierte, den Schuldigen bereits ermittelt, aber noch nicht genügend Beweise gesammelt zu haben, um es offiziell bekanntzugeben. »Bloß weil er der Mann in der Beleuchterkabine war, heißt das doch noch lange nicht... gut... was haben sie denn sonst noch für Anhaltspunkte?« (Da gab es einige: Nicht nur, daß er reichlich Gelegenheit dazu gehabt hätte, es verhielt sich schließlich auch so, daß er der Mann gewesen war, der die Klinge auf die Bühne gebracht hatte. Und außerdem wußte schließlich jeder, daß seine Geliebte jetzt eine reiche Witwe war.) Tim stand auf.
»Was... was ist denn los?« stammelte Avery. »Wir sind doch noch nicht fertig.«
»Ich bin fertig.«
»Oh, aber du mußt noch von den Kirschen essen, Tim! Ich weiß doch, wie sehr du die magst. Ich habe sie nur deinetwegen gemacht. Und sie in kleinen Zuckerkörbchen angerichtet.«
»Entschuldige.«
Ich könnte Rosa umbringen, dachte Avery. Boshafte, skandallüsterne, intrigante alte Hexe! Das alles ist doch bloß ihretwegen passiert. Und dabei war gerade alles so schön. Tränen der Enttäuschung und Frustration quollen aus seinen Augen. Als sein Blick sich wieder klärte, sah er Tim in Mantel und Borsalino in der Wohnzimmertür stehen. Avery sprang auf.
»Wohin gehst du?«
»Ich will einfach nur raus.«
»Aber wohin, Tim?« Avery rannte auf Tim zu und hängte sich an seinen Arm. Seine Stimme bebte, als er forderte: »Du mußt es mir sagen!«
»Ich muß zum Revier.«
»...Was... zum Polizeirevier?« Als Tim nickte, rief Avery aus: »Aber wozu denn das um Himmels willen?«
Doch schon während er die Frage stellte, wurde Averys Herz von einer schrecklich kalten Vorahnung zusammengedrückt. Er wußte, daß Tim sie ihm gleich bestätigen würde.
»Weil«, sagte Tim und entfernte sanft Averys Hand von seinem Ärmel, »ich der Mann in der Beleuchterkabine war.«
Tim tat es leid, daß er gekommen war. Barnaby hatte sich gnädig dazu herabgelassen (wie es Tim schien, mit einem gewissen Maß an ironischem Vergnügen), ihm die Information zu geben, David Smy sei keineswegs verhaftet worden, sondern frei wie ein Vogel, und das würde er auch bleiben. Aber Tim hatte sein Geständnis bereits abgelegt und konnte es jetzt nicht mehr zurücknehmen. Er war davon ausgegangen, es stünde ihm frei zu gehen, wenn er erst einmal seine Aussage gemacht hatte, aber Barnaby schien ihm noch weitere Fragen stellen zu wollen. Die Krönung dieser unwillkommenen Wendung war die Anwesenheit dieses ekelhaften Jungen mit dem karottenroten Haar, der alles mitschrieb.