»...Verstehen Sie, nur so als Hintergrundinformation, Tim«, erläuterte Barnaby. »Erzählen Sie mir, wie Sie mit Esslyn zurechtgekommen sind.«
»Genauso gut oder schlecht wie jeder andere auch. Da gab es wirklich nichts, womit man hätte zurechtkommen können. Er hat sich halt immer in Szene gesetzt. Man wußte nie, was er wirklich gefühlt hat.«
»Aber trotzdem ist es doch ungewöhnlich, wenn jemand über 14 Jahre lang zu einer Gruppe gehört und nicht eine einzige Beziehung hat, die etwas tiefer geht oder ernster ist.«
»Oh, ich weiß nicht so recht. Viele Männer haben keine engen Freundschaften. Solange Esslyn genug bewundert wurde und viel Sex hatte, war er eben zufrieden.« Tim lächelte. »Des Werbefachmanns Traum wird Praxis.«
»Das ist nicht mehr als menschlich.« Barnaby klang nachsichtig. »Wer von uns könnte nicht dasselbe sagen?«
Mitten ins Schwarze getroffen, dachte Troy. Mach nur immer so weiter, bis du irgendwann mal genug hast. Zum Beispiel dann, wenn du in deinen Sarg steigst. Troy war reichlich sauer. Er kam einfach nicht klar damit, daß der Mann, den er (anscheinend nur zu passend) für den großspurigen Schwulen im Geschäftsanzug gehalten hatte, bei Kitty gelandet war. Paradoxerweise hatten sich seine Vorurteile gegenüber Tim dadurch verdoppelt. Und die Art und Weise, wie er hier im Büro umherschlenderte... man sehe sich das nur an... total selbstsicher, ziemlich desinteressiert und so kalt wie ein Eistee. Der Bodensatz der Gesellschaft, dachte Troy, sollte seinen Platz besser kennen und nicht an die Oberfläche steigen, denn damit verpfuschte er bloß ein anständiges und ordentliches Gebräu.
»Es hat ihm also nie an weiblicher Gesellschaft gefehlt?« hakte Barnaby nach.
»Oh, nein. Aber es war nichts dabei,was lange gehalten hat. Sie waren immer recht schnell wieder von der Bildfläche verschwunden.«
»Sie kennen nicht zufällig eine Dame, die er in der Vergangenheit verschmäht hat? Wer könnte unter Liebeskummer leiden?«
»Keine Frau, die sich mit Esslyn eingelassen hat, ob er sie nun zurückgewiesen hat oder nicht, hätte jemals davon ausgehen können, daß ihre Liebe erwidert wird. Nein, ich kann Ihnen in dem Punkt wirklich nicht weiterhelfen.«
»Es ist Ihnen doch klar, daß Kitty unsere Hauptverdächtige ist? Haben Sie ihr dabei geholfen, ihren Ehemann loszuwerden?«
»Gewiß nicht. Es hätte gar keinen Grund für mich gegeben, so etwas zu tun. Unsere Affäre war trivial. Ich hatte sie bereits satt.«
»Als Sie mit ihr zusammen waren, hat sie da irgend etwas gesagt, was Licht in die ganze Angelegenheit bringen könnte?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Einen Hinweis auf irgendeinen anderen Mann?«
»Nein.«
»Kommen wir zum Montagabend zurück...«
»Ich habe dem wirklich nichts mehr hinzuzufügen, Tom.«
»Tja«, bemerkte Barnaby leichthin, »das kann man nie wissen. Versuchen Sie doch mal, es so zu sehen: Wieso ist der Mord zu diesem Zeitpunkt geschehen? Warum nicht schon bei einer der Proben? Da hingen nicht so viele Leute herum. Und es waren auch keine Polizisten da.«
»Während der Proben ist es aber nie dunkel hinter den Kulissen. Und da ist auch immer irgendeiner, der souffliert. Oder der einen Szenenwechsel machen möchte.«
»Waren die Kulissen denn auch beim Durchlauf oder bei der Kostümprobe nicht dunkel?« Als Tim schwieg, fügte Barnaby hinzu: »Übrigens, habe ich Ihnen eigentlich schon zu Ihrer hervorragenden Beleuchtung gratuliert?«
»Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern.«
Es ist so, als wollte man eine Schnecke bei ihren Hörnern packen, dachte Barnaby und nahm das schnelle (als reiner Selbstschutz gedachte?) Nachlassen der Aufmerksamkeit seines Gegenübers wahr.
»Harold schien verärgert zu sein.«
»Was?«
»Ich habe bemerkt, wie er in der Pause gegen die Tür Ihrer Kabine gehämmert hat.«
Tim zuckte die Achseln. »Er ist nun mal aufbrausend.«
»Vielleicht wäre er weniger aufbrausend gewesen, wenn Sie diese wunderbare Beleuchtung vor der Premiere schon mal geprobt hätten.«
»Wenn wir das getan hätten, dann wäre sie in der Premiere nie zum Einsatz gekommen, denn Harold hätte schon vorher alles sabotiert.«
»Also hat Harold nichts davon gewußt?«
Die Schneckenhörner verschwanden völlig. Obwohl Tims Ausdruck lakonisch blieb, sogar ein wenig verächtlich, waren seine Augen unruhig, und die Haut schien sich über seiner Patriziernase zu spannen. »Das ist richtig.«
»Also hat er zwei Schocks zum Preis von einem erhalten?«
»Ja, wie sich herausgestellt hat.«
»Welch ein Zufall.«
»Zufälle passieren doch laufend.«
Aber nicht diesmal, dachte Barnaby. Er wußte auch nicht, woher seine Gewißheit kam, aber sie war da. Irgendwo in den hintersten Winkeln seines Hirns, in denen Nebelschwaden trieben, hörte er so leise, daß es nur schwer wahrzunehmen war, eine warnende Rassel. Dieser Mann, der Esslyn Carmichael unmöglich getötet haben konnte, wußte etwas. Aber er hielt Barnabys Blicken stand und sah ihm fest, fast schon einschüchternd in die Augen. Er dachte gar nicht daran wegzusehen.
»Vermutlich ist Ihnen nicht klar«, sagte Barnaby, »daß Harold das neue Lichtkonzept als seine eigene Idee ausgibt.«
»Ha!« Tim lachte schroff. Sein Gesicht rötete sich. »Also, das ...« Sein Lachen überschlug sich. »Also, das war alles was wir tun mußten, einfach nur >Ja, Harold< sagen. Und dann unser eigenes Ding durchziehen. Genau wie Esslyn.«
»So scheint es jedenfalls.«
»Die ganzen Jahre.« Er lachte immer noch in dieser rauhen, gereizten Art, als der Chefinspektor ihn einige Minuten später gehen ließ.
Barnaby konnte keinen Grund erkennen, wieso er Tim dabehalten oder ihn unter Druck setzen sollte. Tim gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die man mit allgemein gehaltenen spaßhaften Drohungen und Aufmunterungen kleinkriegen konnte. Aber Barnaby wußte jetzt, wo sein Druckpunkt lag, und konnte, falls es nötig werden sollte, die Hebelwirkung dort ansetzen. Er wandte sich an seinen Sergeant.
»Was meinen Sie, Troy?«
»Der Mann hat Angst, Sir«, antwortete Troy rasch. »Es war alles in Ordnung, bis Sie auf das Licht zu sprechen kamen. Dann ist er in sich selbst zusammengeschrumpft wie der Schwanz und die Eier in Eiswasser. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er der Mörder ist, aber er weiß etwas.«
»Ich glaube, Sie haben recht.«
»Wie wäre es, wenn wir uns mal mit seinem Freund unterhalten würden?« Troy ließ seine Handgelenke in einer gezierten Geste schlaff herunterhängen, »dem kleinen Pummelchen. Und zwar ganz allein.« Er zwinkerte seinem Chef zu. »Es wird nicht lange dauern, bis er zusammenfällt.« Sein Zwinkern wurde mit einem Blick beantwortet, der so eisig war, daß er selbst beinahe zusammengefallen wäre.
»Morgen früh werde ich mich zunächst einmal in Carmichaels Büro umsehen. Und seinen Rechtsanwalt treffen. Hängen Sie sich ans Telefon, und machen Sie die Termine klar.«
Nicholas war kurz nach Tim gegangen. Er hatte sich bei Avery für das Essen bedankt und stellte dann auf der Treppe mit absoluter Klarheit in der Stimme richtig: »Ich bin nicht so betrunken, wie du glaubst.«
Jetzt saß Avery allein da. Er hatte den Tignanello ausgetrunken, ihn sich zuerst unter Schock eingeschenkt und ausgetrunken, eingeschenkt und ausgetrunken, dann aber in bitterer Einsamkeit und Verzweiflung. Als die Flasche leer war, hatte er in seinem verwirrten Zustand aggressiven Elends, vermischt mit unklaren Vorstellungen von Vergeltung, den Clos St. Denis, Grand Cru, entkorkt, von dem er wußte, daß Tim ihn extra für seinen Geburtstag zurückgelegt hatte. Er rang erst wild mit dem Korken, brach dann Teile davon ab und verschüttete dabei den Wein.