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»Das hat natürlich ganz andere Perspektiven eröffnet. Denn beinahe jeder hätte das Messer nehmen, das andere an seine Stelle legen, das Klebeband entfernen, wenn es sich gerade unauffällig machen ließ, und dann das Original wieder hinlegen können.«

»Sie sprachen von >beinahe jeder< - wer scheidet denn als Täter aus, Tom?« fragte Nicholas.

»Avery. Es ist erst wieder in die Kulissen zurückgekehrt, als das Stück zu Ende war. Nachdem ich erst einmal wußte, wie es bewerkstelligt worden ist«, fuhr Barnaby fort, »mußte ich also nur noch die beiden >Warums< klären. Warum sollte jemand Esslyn überhaupt ermorden wollen, und, was viel verwirrender war, warum hatte er sich dazu entschlossen, es ausgerechnet vor über hundert Leuten auszuführen? So ganz habe ich die zweite Frage noch nicht geklärt, aber ich bin mir langsam ziemlich sicher, daß ich die erste beantworten kann.«

Barnaby kam jetzt nach vorn zurück, und wieder folgten die Köpfe seiner Bewegungsrichtung, als wären sie durch ein unsichtbares Band mit ihm verknüpft. Er lehnte sich an die Bühne, steckte die Hände in die Taschen und schwieg eine Weile. Der alte Gauner, dachte Cully voller Bewunderung. Und ich dachte, ich hätte das alles nur von meiner Mutter.

»Nachdem wir die Motive, an die wir zuerst gedacht hatten - namentlich Leidenschaft und Geld - verworfen hatten, blieb uns nur noch ein drittes Motiv, das freilich genauso durchschlagend und, wie ich glaube, auch zutreffend ist. Esslyn Carmichael wurde getötet, weil er etwas wußte. Unsere Ermittlungen ergaben aber, dank seiner gewissenhaften Art, die finanziellen Dinge zu ordnen, daß keine größere Geldsumme auf einem seiner Konten eingegangen war, was auszuschließen schien, daß er seine Kenntnisse in finanziellen Gewinn umgemünzt hat. Aber die Forderungen eines Erpressers können natürlich auch anderer Natur sein; sie müssen nicht zwangsläufig finanzieller Art sein. Man kann Menschen genausogut sexuell erpressen, und man kann sein Wissen auch dazu benutzen, Macht an sich zu reißen. Ich habe die erste Möglichkeit für unwahrscheinlich gehalten, weil Esslyn gerade erst frisch verheiratet war und aufgrund seines mangelnden Einfühlungsvermögens und seiner damit einhergehenden Blindheit auch zufrieden zu sein schien. Und doch war die letztere Möglichkeit, nachdem ich erkannt hatte, daß sich sein Charakter durch einen Mangel an Ehrgeiz und Selbstvertrauen ausgezeichnet hat, noch viel unwahrscheinlicher. Gleichzeitig wurde ich mir immer sicherer, daß die Lösung des Falles in diesem Bereich liegen würde.

Ich bin mir sicher, daß Sie alle genauso wie ich, diesen Mord für einen theatralischen Mord gehalten haben. Obwohl an diesem schrecklichen Abend die Realität in vielen sehr unangenehmen Formen Einzug gehalten hat, wußten wir alle bis zur letzten Minute, daß wir ein Stück sehen. Esslyn trug Kostüm und Schminke, er sprach Textzeilen und führte Bewegungen aus, die er geprobt hatte. Daher mußte, wer auch immer ihn getötet hatte, ein Mitglied der Truppe sein. Es schien so klar zu sein, daß sich alles nur um das Latimer drehte, und auch ich habe kaum einen Blick in Esslyns übriges Leben geworfen - immerhin den größten Teil seiner Existenz. Es war Kitty, die mir ins Gedächtnis zurückgerufen hat, daß Esslyn Carmichael jede Woche von Montag bis Freitag, von morgens neun Uhr bis abends fünf Uhr, Buchhalter war.«

An dieser Stelle bedeckte Tim sein kreideweißes Gesicht mit den Händen und ließ den Kopf sinken. Avery legte ihm einen Arm um seine Schultern. Als er das tat, drängten sich ihm Bilder voll von falschem Pathos auf. Er sah sich, wie er Tim jede Woche im Gefängnis besuchen würde, auch wenn es Jahre dauern sollte. Er würde eine Feile in einen Kuchen ein-backen. Oder ein Seil unter dem Mantel tragen. Als er an das Gefängnisessen dachte, fühlte er, daß ihm flau in der Magengrube wurde. Wie sollte Tim das bloß überleben?

»Wenn Sie sich erinnern, Kitty...« Avery zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder dem zu widmen, was Tom ausführte, »...habe ich Sie gefragt, ob es im Alltag Ihres Ehemannes irgendwelche Veränderungen gegeben hätte, und Sie antworteten, er sei am Samstag, seinem Todestag, morgens zur Arbeit gegangen. Ich weiß nicht, Rosa, ob sie sich noch erinnern... ?«

»Niemals.« Die erste Frau Carmichael schüttelte energisch den Kopf. »In diesem Punkt war er sehr strikt. Er hat gesagt, er hätte die ganze Woche über schon genug Zahlen und Fakten um die Ohren.«

»Kitty hat mir erzählt, er sei ins Büro gefahren, um >etwas einzutreiben<. Das ist ein befremdlicher Satz. Er könnte jedenfalls eher von den Lippen eines Spielers als von denen eines Buchhalters kommen. Oder auch von einem Schuldeneintreiber. Denn genau das ist es, was mit dieser Formulierung gemeint war. Man treibt Schulden ein. Und ich glaube, das genau war es, was Esslyn vorhatte. Die Höhe der Schulden und der Zeitraum sind uns nicht bekannt. Aber er hatte augenscheinlich beschlossen, daß es ihm jetzt endgültig reichte.«

»Aber, Tom«, unterbrach ihn Joyce, »du hast doch gesagt, er wäre getötet worden, weil er etwas wußte.«

»Und«, fiel Nicholas ein, »es ist zwar nicht besonders schön, jemandem Geld zu schulden, aber es ist doch noch lange kein Weltuntergang. Schulden sind es doch nicht wert, jemanden zu töten. Ich meine, das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß man vor Gericht gestellt wird.«

»Oh, es hat aber viel mehr auf dem Spiel gestanden. Um uns ein genaues Bild davon zu machen, was das war, müssen wir bis an den Punkt zurückgehen, den ich vorhin schon erwähnt habe. Wir müssen uns fragen, was vor einigen Monaten geschehen ist - um genau zu sein, vor sechs Monaten. Was hat Esslyn so viel Selbstvertrauen eingeflößt, daß er plötzlich angefangen hat, sich wichtig zu machen?«

Barnaby legte eine kleine Pause ein, und das Schweigen war von Mißtrauen geschwängert und wurde von erschreckten Blicken durchlöchert. Zunächst war es noch sehr dicht, aber dann wurde es lichter und nahm schließlich klare Formen an. Barnaby war sich nicht sicher, wer als erster auf die Everards kam. Er hatte jedenfalls ganz sicher nicht mit dem Finger auf sie gezeigt. Aber ganz so, als besäße er telepathische Kräfte, blickte erst einer und dann noch ein anderer in ihre Richtung.

Nicholas sprach es aus: »Er hat sich zwei Hofdiener zugelegt.«

»Ich sehe nichts Verwerfliches darin...«, fuhr Clive Everard auf.

»... ich auch nicht...«, fiel Donald ein.

»... sich mit einem Mann anzufreunden...«

»... ihn zutiefst zu bewundern...«

»... ja, ihn sogar zu verehren...«

»... jemanden wie Esslyn mit seinen unbestrittenen Talenten ...«

»... und bemerkenswerten Fähigkeiten ...«

»Ihr verdammten Heuchler.« Barnabys Stimme war so leise, daß die Blicke der Leute einen Moment lang verwirrt umherirrten, weil sie sich nicht sicher waren, aus welcher Richtung dieser ungeheure Vorwurf gekommen war. Troy wußte es, und sein Adrenalinpegel schoß in die Höhe. Barnaby blieb neben der Reihe stehen, in der die Brüder saßen, und sagte, immer noch sanft: »Ihr widerlichen, intriganten, heimtückischen, gehässigen Mistkerle.«

In ihren talgigen Gesichtern bebten die Nasenflügel vor lauter Schreck. Die Everards rückten noch enger zusammen. Kitty blickte sie mit einsetzendem Grauen an, Cully, die sich nicht bewußt war, daß sie Nicholas’ Arm sehr fest umklammert hielt, zog sich halb aus ihrem Sitz empor. In Averys Miene war plötzlich ein Hoffnungsschimmer zu erkennen. Joyce hatte das Gefühl, vor Spannung zu ersticken, und Harold nickte. Sein Kopf bewegte sich vor und zurück, so als säße er lose auf den Schultern wie die Köpfe auf diesen chinesischen Buddha-Figuren, die man zuweilen in Antiquitätenläden finden kann.

»Sie haben kein Recht, so mit uns zu sprechen«, beschwerte sich einer der Everards, die sich schnell wieder erholt hatten.