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Miss Simpson blinzelte und blinzelte noch einmal. Wer hätte das je für möglich gehalten? Sie ließ die Zweige los, hielt die Luft an und atmete dann langsam wieder aus. Eine ganze Weile blieb sie wie angewurzelt stehen und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Widersprüchliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und ihre Gefühle waren völlig verworren. Dieser Anblick war schockierend, entsetzlich peinlich und abstoßend, und doch spürte sie, daß sie eine schwache Erregung überkam, die sie jedoch augenblicklich resolut unterdrückte. Sie kam sich vor, als hätte ihr jemand eine tickende Bombe in die Hand gedrückt. Die Umstände und ihre Veranlagung hatten sie dazu gebracht, all dem Durcheinander und den Schwierigkeiten, die bei der Bräutigamsuche, der Verlobungszeit und der Ehe mit ihren Konflikten unweigerlich entstanden, aus dem Wege zu gehen, und deshalb fühlte sich Miss Simpson dieser Situation überhaupt nicht gewachsen.

Ärgerliche Empörung brach sich Bahn, und beinahe hätte sie mißbilligend mit der Zunge geschnalzt. Ausgerechnet mitten im Wald! Dabei hatten die beiden doch ein Zuhause, sie hätten ihre Spielchen gut hinter verschlossenen Türen treiben können. Dieses Pärchen hatte ihr den wundervollen Tag gründlich verdorben.

Miss Simpson mußte sich so leise davonmachen, wie sie gekommen war. Sie betrachtete aufmerksam den Boden. Auf keinen Fall durfte sie auf trockene, knackende Zweige treten. Und je früher sie diesen Ort verließ, um so besser. Nach allem, was sie wußte, müßten die beiden bald ... na ja, sie müßten in Kürze jenen Punkt erreichen, den Menschen eben so anstreben.

Plötzlich schrie die Frau auf. Es war ein eigenartiger, schrecklicher Schrei, und ein Vogel flatterte aus dem Gestrüpp und streifte Miss Simpsons Gesicht. Miss Simpson kreischte erschrocken auf, wirbelte beschämt bei dem Gedanken, man könnte sie hier sehen, herum und rannte los. Sekunden später stolperte sie über eine Wurzel. Sie stürzte, achtete aber in ihrer Panik nicht auf den Schmerz, sondern mühte sich sofort wieder auf die Füße und lief weiter. Hinter sich hörte sie dumpfe Geräusche und ein Rascheln, offenbar waren sie aufgesprungen und schoben die Äste beiseite, um nachzusehen, was vor sich ging. Bestimmt erkannten sie sie. Sie mußten. Schließlich war sie erst ein paar Meter von ihnen entfernt. Aber nackt, wie sie waren, würden sie sie doch sicherlich nicht verfolgen, oder?

Ihre achtzig Jahre alten Beine gehorchten Befehlen, die sie seit sehr langer Zeit nicht mehr ausgeführt hatten. Sie flogen in seltsamen Winkeln schräg nach hinten und trugen Miss Simpson in unglaublicher Geschwindigkeit bis zum Waldrand. Dort lehnte sie sich an einen Baumstamm, lauschte und rang nach Atem; sie preßte die Hand auf die flache, schmerzende Brust und brauchte volle fünf Minuten, bis sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie langsam nach Hause gehen konnte.

Später, am Abend, saß sie in ihrem Sessel am Fenster und beobachtete, wie die Nacht über den Garten hereinbrach. Sie hatte das Fenster weit aufgestoßen und sog tief den Duft des Ziertabaks und der Levkojen ein, die sie nah ans Haus gepflanzt hatte. Am anderen Ende der Rasenfläche leuchteten die kleinen, weißen Bienenstöcke, denen ihr Haus den Namen »Bienenstock-Cottage« verdankte, im diffusen Dämmerlicht beinahe blau.

Seit ihrer Heimkehr vor etwa drei Stunden saß sie so da. Essen konnte sie nicht, und der Schmerz in ihrem Schienbein wurde immer stärker. Je mehr sie grübelte, um so unsicherer wurde sie, wie sie sich verhalten sollte.

Alles war jetzt anders. Sie wußte, daß die beiden sie gesehen hatten. An dieser Tatsache war nicht zu rütteln, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie die Zeit bis gestern hätte zurückdrehen können. Ihre Eitelkeit hatte sie in diese mißliche Lage gebracht: der Wunsch, ihre Freundin auszustechen und zu besiegen. Geschah ihr ganz recht. Sie seufzte niedergeschlagen. All die Selbstkritik löste jedoch nicht ihr Problem.

Sie fragte sich, ob sie zu ihr kommen und mit ihr reden würden - ein kalter Schauer lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken. Sie stellte sich vor, wie diese Unterhaltung zu dritt wohl ablaufen mochte. Die gräßliche Verlegenheit. Oder war dem Pärchen die Situation vielleicht gar nicht so peinlich? Es gehörte schon eine Portion Unverfrorenheit und Schamlosigkeit dazu, sich unter freiem Himmel auf diese Weise auszutoben. Möglicherweise sollte sie selbst die Initiative ergreifen und auf die beiden zugehen. Ihnen versichern, daß sie Stillschweigen bewahren würde. Miss Simpsons empfindsame Seele schreckte vor dieser Vorstellung zurück. Ein solcher Schritt würde den Eindruck erwecken, daß sie weitere Intimitäten forcierte, und das war ganz gewiß nicht ihre Absicht. Merkwürdig, dachte sie, plötzlich erfährt man etwas Erschreckendes von zwei Menschen, die man gut zu kennen glaubte. Das schien all das frühere Wissen über sie zu beeinflussen, ja beinahe auszulöschen. Sie rutschte unbehaglich in ihrem Sessel hin und her und biß die Zähne zusammen, als der Schmerz durch ihr verletztes Bein stach. Sie dachte wehmütig an den Moment, als sie die Orchidee gefunden hatte, und an die Vorfreude auf den gemeinsamen Tee mit Lucy. Jetzt durfte sie Lucy nie davon erzählen. Alles erschien ihr besudelt und verdorben. Miss Simpson erhob sich aus dem Sessel und ging durch die Küche in den ruhigen, duftenden Garten. Ihre Lieblingsrose, die Papa Meilland, die sie in die Nähe der Hintertür gepflanzt hatte, war kurz davor, aufzublühen. Letztes Jahr waren die Knospen vom Mehltau befallen gewesen, aber heuer schien die Pflanze gesund zu sein, und ein paar dunkle, schimmernde Triebe versprachen eine üppige Pracht. Eine Knospe war schon so weit aufgeplatzt, daß sie vermutlich am nächsten Morgen schon ihre ganze Schönheit zeigen würde.

Sie seufzte wieder und ging in die Küche zurück, um sich einen Kakao zu kochen. Sie nahm eine blitzende Kasserolle von dem Haken am Balken und schüttete Milch hinein. Nie zuvor war ihr so bewußt gewesen, wieviel Wahrheit das Sprichwort »Geteiltes Leid ist halbes Leid« enthielt. Aber sie lebte schon lange genug in diesem kleinen Dorf, um zu wissen, daß sie mit niemandem über ihre Entdeckung sprechen konnte - nicht einmal mit Lucy, die zwar alles andere als eine Klatschtante war, aber auch nicht die Fähigkeit besaß, sich zu verstellen oder ihre Gefühle zu verbergen. Selbst den Menschen, die man normalerweise ins Vertrauen zog, wie ihren Anwalt (der sich derzeit an der Algarve im Urlaub befand) und natürlich den Vikar, konnte sie ihr Wissen nicht offenbaren. Der Vikar war schrecklich redselig und tratschte viel, besonders nach dem monatlichen Treffen der Weinfreunde.

Miss Simpson holte eine geriffelte Porzellantasse mit Unterteller aus dem Schrank (sie konnte sich einfach nicht mit diesen modernen klobigen Bechern anfreunden) und gab einen gehäuften Teelöffel Kakaopulver, ein wenig Zucker und eine Prise Zimt hinein. Ihrem Neffen, der weit weg in Australien lebte, könnte sie alles erzählen, aber das würde bedeuten, daß sie ihm die ganze Geschichte in einem Brief schildern müßte. Allein der Gedanke daran, eine derartige Ungeheuerlichkeit schriftlich in Worte zu fassen, verursachte ihr Übelkeit. Die schäumende Milch stieg bis zum Topfrand. Miss Simpson schüttete sie vorsichtig in die Tasse und rührte dabei um.

Sie machte es sich wieder in ihrem Sessel bequem und nippte an ihrem Kakao. Wenn sie schon keine Möglichkeit hatte, sich Bekannten anzuvertrauen, dann gab es doch sicherlich Organisationen, die für solche Fälle ein offenes Ohr hatten, oder? Sie selbst hatte ihr ganzes Leben lang hilfreiche Freunde um sich gehabt, doch jetzt zermarterte sie sich das Gehirn und überlegte, wie die Institutionen hießen, die weniger Glücklichen halfen. Ihr fiel ein, in den Büros, in denen sie gegen die Abzüge von ihrer Pension protestiert hatte, Plakate gesehen zu haben. Ein Mann mit Telefonhörer am Ohr. Und ein Name, der ihr damals sehr biblisch vorgekommen war. Sie mußte sich bei der Auskunft erkundigen. Gott sei Dank gab es das Durchwahlverfahren, so daß sie die neugierige Mrs. Beadle nicht um Vermittlung bitten mußte.