»Soweit ich informiert bin, haben Sie und der andere Treiber später gründlich nach der Patronenhülse gesucht.«
»So kraß würde ich das nicht ausdrücken. Wir haben uns umgesehen, aber es erschien uns sinnlos, deshalb gaben wir die Suche ziemlich schnell wieder auf.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Lacey.«
Als die beiden Polizisten in ihren Wagen stiegen, dachte Troy, dem der Rüffel wegen des Rover noch zu schaffen machte, angestrengt über eine kluge Bemerkung nach. Schließlich sagte er: »Haben Sie bemerkt, daß er die Tür zu dem Zimmer, in dem er malt, abgesperrt hat? Das kommt mir komisch vor.«
»Oh, ich weiß nicht so recht. Kreative Menschen unternehmen oft alles mögliche, um ihre unfertigen Arbeiten vor neugierigen Blicken zu schützen. Denken Sie nur an Jane Austens knarrende Tür.«
Sergeant Troy wendete das Auto und sah in den großen Spiegel, der in der Hecke befestigt war und sowohl den Weg als auch den vorderen Gartenteil einsehbar machte. »Ja, da haben Sie recht, Sir«, erwiderte er. Auf gar keinen Fall wollte er preisgeben, daß er nicht das geringste über Jane Austens knarrende Tür wußte. Und was Michael Lacey, den Traum junger Liebender, betraf... Troy warf einen Blick in den Rückspiegel und glättete sein karottenrotes Haar. Bestimmt bevorzugten die Mädchen nur in kitschigen Liebesromanen die dunklen Typen.
Michael Lacey sah dem davonfahrenden Wagen von der Veranda aus nach, dann ging er in sein Atelier zurück. Er nahm die Palette und den Pinsel in die Hand und starrte einen Moment auf die Leinwand, dann legte er beides wieder weg. Es war nicht mehr hell genug. Trotz der lästigen Unterbrechung war er zufrieden mit seinem Tag. Manchmal arbeitete er mit einer gehörigen Wut im Bauch, zerriß seine Skizzen, übermalte einige Passagen, die nicht die richtige Ekstase zum Ausdruck brachten, und weinte sogar hin und wieder vor Zorn. Aber Tage wie der heutige machten die schlechten wieder wett. Aus den erbitterten Kämpfen erwuchs bisweilen eine wundervolle, wohltuende Leichtigkeit. Er studierte die Gestalt auf seinem Gemälde. Es gab immer noch eine Menge zu tun. Nur die Grundierung war fertig. Aber er war begeistert und absolut überzeugt, daß es ein großartiges Bild werden würde. Es war ungeheuerlich, wenn so etwas geschah und er glauben konnte, daß ihm alles gelang - egal, was er tat, welche Technik er anwandte und wie er vorging. Er war sich so sicher, daß er das Gefühl hatte, er könnte nichts verderben, selbst wenn er es versuchen würde.
Er ging in die Küche und öffnete eine Konserve Bohnen mit Würstchen, nahm einen Löffel und kehrte essend in sein Atelier zurück. Das schwindende Licht veränderte den Raum, die Wände schienen beweglich zu werden. Vier riesige abstrakte Bilder mit dicker weißer Farbschicht überragten ihn. In der Ecke eines jeden war ein explodierender Stern, nicht mehr als ein Klecks im Zwielicht.
Auf dem Eckschrank stand ein alter Kerzenhalter aus Zinn. Michael zündete die Kerze an, wanderte damit durch das Zimmer und betrachtete die vielen Bilder, die an den Wänden lehnten. Obwohl er sein Atelier mit einer starken Deckenlampe gut ausleuchten konnte, liebte Michael den Effekt von Kerzenlicht. Die Farben wurden dadurch satter und vielschichtiger; die Augen auf den Bildern schienen zu flackern, und Münder zuckten bei dem unruhigen Licht. Festes Fleisch wurde in etwas Seltenes, Zartes, Köstliches verwandelt. Die Wirkung war stimulierend und füllte seinen Geist mit wunderbaren, subtilen Ideen.
In dem Schrank standen ein paar Bücher und Kunstkataloge, alle ziemlich zerfleddert, mit losen Seiten. Michael nahm einen Katalog heraus, setzte sich und betrachtete nachdenklich ein Bild von Botticelli. Wie verführerisch, dachte er - diese sanften, lebhaften Gesichter, geschmückt mit frischen Frühlingsblumen. Er aß seine Bohnen auf, blieb von Grund auf zufrieden eine Weile so sitzen und malte sich aus, wie er durch die Uffizien schlenderte und ehrfurchtsvoll vor dem Original stand. Dann öffnete er das Fenster, kickte die leere Bohnendose hinaus - ein blitzender Bogen vor dem dunklen Himmel.
7
Spät am Abend stocherte Barnaby niedergeschlagen in seinem Salatteller herum. Er war absichtlich länger in seinem Büro geblieben und hatte die Notizen von den Befragungen der Kollegen durchgesehen, bis er sicher sein konnte, daß die Abendessenszeit vorbei war und er zu Hause eine Konserve aufmachen konnte, ohne die Gefühle seiner Frau zu verletzen. Er hatte vergessen, daß es so etwas wie Tomaten, Gurken und Rote Bete gab...
Man hätte meinen können, daß nicht einmal Joyce einen Salat so sehr verderben konnte, daß er ungenießbar war, aber das war ein Irrtum. Das Grünzeug schwamm zusammen mit lebendigen Tierchen in einer viel zu sauren Essigsauce. Barnaby hob ein schlappes Salatblatt an. Ein winziges Insekt, das verzweifelt gegen die Essigflut ankämpfte, wurde sichtbar.
»Nachher gibt’s Bakewell Surprise«, rief Joyce doppeldeutig aus der Küche. Trotz allem hatte er Hunger - das erstaunte ihn immer wieder aufs neue. Es war ergreifend, wirklich. Egal, wie sehr er seinen Magen mit Joyces Kost malträtierte, nach ein paar Stunden meldete er sich fröhlich knurrend, und Barnaby überlegte voller Hoffnungen, ob er bei der nächsten Mahlzeit vielleicht mehr Glück haben würde.
»Cully kommt nächstes Wochenende.« Joyce brachte ihm den Kuchen, stellte ihm eine Tasse Tee hin und gab ihm einen liebevollen Kuß. »Ist das in Ordnung?«
»Wunderbar. Für wie lange?«
»Nur bis Sonntag abend.«
Barnaby und Joyce sahen sich an. Sie beide liebten ihre Tochter und waren sehr stolz auf sie. Aber beide fanden es viel schöner, wenn ihr einziges Kind nicht zu Hause war, obwohl sie das nie laut aussprachen. Schon von klein auf hatte Cully bereits einen ungewöhnlich scharfen Blick und ein loses Mundwerk gehabt, und im Laufe der Jahre mußten sich die Eltern an einiges gewöhnen. Cully war eine sehr gute Schülerin gewesen, jetzt studierte sie Englisch in New Hall und war zuversichtlich, ein gutes zweites Examen zu machen, obwohl Barnaby der Meinung war, daß sie zuviel Zeit mit Theaterproben vergeudete.
»Kannst du sie am Samstag abholen?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.« Barnaby vertilgte sein Bakewell Surprise - das war mehr, als es verdiente - und überlegte, in welchem Aufzug seine Tochter diesmal erscheinen würde. Sie hatte sich immer schon provozierend gekleidet, aber er und Joyce dachten, als sie sie in den Zug nach Cambridge setzten, daß die Zeit des Gammellooks, der Sicherheitsnadeln und des bleichen Make-ups vorbei sei (genaugenommen hofften sie, daß man sie in den nächsten Ferien als adrettes junges Mädchen nach Hause schicken würde), aber bei jedem der seltenen, unregelmäßigen Besuche seither wurden sie mit noch exotischeren und schockierenderen Aufmachungen überrascht. Ein Schönes hatten ihre Stippvisiten zu Hause - Cully, die, wie sie selbst es ausdrückte, ihr Zuhause verließ, während sie noch ihre volle Gesundheit und Stärke hatte, bewahrte sich diese, indem sie leckere Sachen von Marks and Spencers und Joshua Taylor’s Delikatessenladen mitbrachte.
»Vergißt du auch nicht, deinen Vater anzurufen?«
Barnaby nahm seinen Tee und setzte sich an den Kamin. Da er seine Eltern seit einem Vierteljahrhundert einmal wöchentlich anrief, lief er wohl kaum Gefahr, es diesmal zu vergessen. Beide waren über achtzig und hatten sich schon vor zwanzig Jahren auf ihren Ruhesitz außerhalb von Eastbourne zurückgezogen. Dort inhalierten sie Ozon, spielten Boccia und arbeiteten im Garten.
»Ich denke dran.«
»Ruf an, bevor du es dir gemütlich machst.«
»Ich habe es mir bereits gemütlich gemacht.«
»Danach kannst du deinen Tee richtig genießen.«
Barnaby hievte sich gehorsam aus dem Sessel. Seine Mutter nahm den Hörer ab und berichtete, nachdem sie sich ausführlich nach seiner Gesundheit und der Gesundheit seiner Familie erkundigt hatte, von ihren Erlebnissen der Woche, die einen großartigen Streit im Kunstförderkreis über den Vorschlag eines Neunzigjährigen, ein Seminar für Lebensbewältigung einzurichten, einschlossen. Sie beendete das Gespräch wie immer mit den Worten: »Ich ruf’ Daddy an den Apparat.«