Ihre Hände zitterten, und sie umklammerte den Beckenrand, um sie ruhig halten zu können. Es war immer dasselbe, wenn sie über Michael sprach. Sie fühlte sich elend, nachdem sie ihren fruchtlosen Besuch und ihren feigen, heimlichen Rückzug beschrieben hatte. Aber sie hatte ihre Aussage berichtigt, das war die Hauptsache. Und sie war froh darüber. Besonders nach ihrem dummen Versuch, ihre Nachmittagsbeschäftigungen zu verschleiern. Plötzlich begriff sie, daß ihr Eingeständnis noch einen Nebeneffekt hatte. Falls Miss Simpsons Tod tatsächlich einem Verbrechen zuzuschreiben war (und warum sonst stellte die Polizei all diese Fragen?), hatte sie Michael ein Alibi verschafft. Möglicherweise war ihm selbst das ganz egal, aber die Tatsache an sich war nicht zu leugnen. Sie verschloß diese kleine gute Tat in ihrem Herzen. Vielleicht erfuhr er niemals etwas davon, aber sie konnte sich das Wissen bewahren und im richtigen Moment zur Sprache bringen.
Sie hörte das Klicken des Telefons. Das mußte Barbara sein. Judy hatte sich in den letzten Minuten nicht vom Fleck gerührt und war ganz still gewesen, so daß ihre Stiefmutter vielleicht annahm, sie wäre in ihrem Zimmer. Oder im Garten. Barbara schien heimlich telefonieren zu wollen. Judy schlich lautlos zur Tür, die Barnaby nur angelehnt gelassen hatte, und spähte durch den Spalt.
Barbara stand mit dem Rücken zur Küche und schirmte die Sprechmuschel mit der Hand ab. Obwohl sie flüsterte, war jedes Wort deutlich zu verstehen.
»Liebling, tut mir leid, aber ich mußte dich anrufen. Hast du meine Nachricht nicht bekommen?... Was soll das heißen - du kannst nichts tun? Du mußt mir helfen. Du mußt einfach... Du hast doch sicher ein bißchen Geld ... Das habe ich getan. Ich habe alles verkauft, was ihm meiner Ansicht nach nicht auffällt, sogar meinen Pelzmantel... Nein, ich hatte ihn bis zum Winter weggeräumt... Woher, zum Teufel, soll ich wissen, wie ich ihm das erkläre?... Dreitausend, und er hat zehn dafür bezahlt, das heißt, daß mir immer noch knapp tausend fehlen. Um Gottes willen - ich bin nur deinetwegen in solchen Schwierigkeiten ... Du Bastard, nicht ich habe gesagt, daß ich die Stunden zähle - tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint. Liebling? Tut mir leid - bitte, leg nicht auf. Bitte - du mußt mir helfen. Es wäre das Ende von allem, wenn er davon erfährt. Du weißt ja nicht, was für ein Leben ich vorher hatte. Ich möchte das nie mehr durchmachen müssen. Ich werde - hallo? Hallo ...?!«
Sie klopfte hektisch auf die Gabel. Einen Moment blieb sie stehen, ihre Schultern sackten herunter, dann knallte sie den Hörer auf die Gabel und rannte die Treppe hinauf. Judy verließ ihren heimlichen Beobachtungsposten und lächelte.
Das Wartezimmer war leer. Als sie hereinkamen, trat eine Frau aus dem Behandlungsraum. Ihr Gesicht hatte die Farbe von hellem Lehm. Sie blieb stehen und sah sich fassungslos um. Die Sprechstundenhilfe eilte auf sie zu, aber die Frau stieß sie beiseite und stürmte an den beiden Polizisten vorbei aus dem Raum. Doktor Lessiters Sprechanlage summte, und Barnaby und Troy wurden kurz darauf in sein Sprechzimmer geführt. Der Arzt legte gerade eine Akte in den Holzschrank zurück. »Das ist das Entsetzliche an meinem Beruf«, sagte er, klang dabei jedoch sachlich und sorglos, »es gibt keine Möglichkeit, schlechte Nachrichten zu mildern.«
»In der Tat, die gibt es nicht, Doktor Lessiter.« Barnaby hätte sich keine bessere Eröffnung der Unterhaltung wünschen können. »Ich bevorzuge auch die ganz direkte Art. Können Sie mir sagen, was Sie am Freitag, dem Siebzehnten, nachmittags getan haben?«
»Das habe ich Ihnen bereits erzählt.« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Wie arbeiten Sie eigentlich? Sagen Sie bloß, Sie haben das schon vergessen.«
»Sie sagten aus, das Cricket-Spiel im Fernsehen gesehen zu haben.«
»Ganz genau.«
»Den ganzen Nachmittag?«
»Richtig.« Er zog am letzten Finger. Das Knacken war sehr laut in dem stillen Zimmer. Plötzlich wurde das Schweigen bleiern, die Atmosphäre änderte sich schlagartig. Der Arzt starrte ungläubig auf seine Hände, als sähe er sie zum erstenmal. Nach einer Weile richtete er den Blick auf Barnabys ernstes Gesicht, dann auf Troy und wieder auf Barnaby. »Ja. Das stimmt.« Doch plötzlich war seine Sicherheit geschwunden. Dies war keine Aussage über tatsächliche Geschehnisse mehr. Er wußte, daß man ihn durchschaut hatte, aber er hatte keine Ahnung, wie man ihm auf die Schliche gekommen war.
»Das Licht war so schlecht, daß das Spiel um elf Uhr morgens abgebrochen wurde - für den Rest des Tages«, klärte Barnaby ihn auf.
»Oh... also ... vielleicht habe ich da etwas verwechselt und am Donnerstag ferngesehen. Ja, so war es. Jetzt erinnere ich mich...«
»Sie machen donnerstags immer Ihre Hausbesuche. Zumindest behaupteten Sie das bei Ihrer letzten Aussage.«
»Ach ja - natürlich, das stimmt. Donnerstag. Wie dumm von mir ...« Schweiß trat ihm auf die Stirn und rollte wie durchsichtige kleine Glasperlen über seine Nase. Sein Blick zuckte hin und her, als erhoffe er Hilfe vom Instrumentenschrank, dem Chrom, der mit einer Gummimatte bedeckten Untersuchungsliege, dem großen Schrank. »Ich sehe nicht ein, was das überhaupt für eine Rolle spielt. Wir alle wissen doch, daß die alte Lady erst am Abend gestorben ist.«
»Ich kann Ihnen versichern, daß unsere Befragungen sehr wohl für diesen Fall relevant sind. Wir würden weder unsere Zeit noch die der Leute, mit denen wir uns unterhalten, verschwenden, wenn wir es nicht für unbedingt nötig hielten.«
Trevor Lessiter beantwortete die wichtigste Frage immer noch nicht, und Barnaby hatte nicht vor, ihm allzuviel Spielraum zu lassen. Schon jetzt war dem Doktor deutlich anzusehen, daß er den Tiefschlag wegzustecken und sich eine passende Alternative für sein geplatztes Alibi auszudenken versuchte. Es wurde Zeit, ihn ein bißchen einzuschüchtern.
»Sie würden doch nicht abstreiten, daß Sie die Kenntnis und hier alle nötigen Gerätschaften zur Verfügung haben, um Schierlingsgift zu gewinnen und auf eine Spritze aufzuziehen?«
»Was? Aber das ist doch lächerlich ... dazu braucht man keine speziellen Gerätschaften. Jeder könnte ...«
»Aber nicht jeder kann einen Totenschein ausstellen.«
»In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas Ungeheuerlicheres ... ich war den ganzen Abend hier.«
»Dafür haben wir nur Ihr Wort, Sir.«
»Meine Frau und meine Tochter...«
»Waren beide zumindest zeitweise außer Haus, wie Sie sich bestimmt erinnern.«
»Ich schwöre Ihnen ...«
»Sie haben auch geschworen, daß Sie nachmittags ferngesehen haben, Doktor Lessiter. Das war gelogen. Woher sollen wir wissen, daß Sie jetzt nicht wieder lügen?«
»Wie können Sie es wagen!« Er schluckte schwer, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als versuche er seiner Kehle zu entfliehen. »Ich habe nie etwas gehört, das derartig ...«
»Haben Sie eine Erklärung dafür, daß wir keine Fingerabdrücke auf Miss Simpsons Telefon gefunden haben? Sie waren offenbar die letzte Person, die den Apparat benutzt hat.«
»Nein, dafür habe ich keine Erklärung.«
»Was für einen Grund hatten Sie, den Hörer so gründlich abzuwischen?«
»Ich? Ich habe ihn nicht angerührt!« Wieder schluckte er ein paarmal nervös. »Hören Sie ... also schön - ich war am Nachmittag nicht hier, das gebe ich ja zu. Barnaby, behandeln Sie das, was ich Ihnen jetzt anvertraue, absolut vertraulich?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht garantieren. Falls es für den Fall nicht relevant sein sollte, gibt es natürlich keinen Grund, es bekanntzumachen.«