»Und so wurde die liebreizende Brigitte, die verzweifelt versuchte, Geld zusammenzubringen, um ihrem sterbenden Vater Medizin kaufen zu können, von dem berüchtigten Maler Fouquet beschwatzt, die Klosterschule zu verlassen und in seinem Atelier zu posieren. Trotz seiner inbrünstigen Beteuerungen, daß alles ganz züchtig sei, erklärte der ruchlose Fouquet, sobald er sie in sein Atelier gelockt hatte, daß er ihr nur Geld geben würde, wenn sie sich splitterfasernackt auszog.«
Plötzlich erinnerte sich der junge Mann ziemlich anschaulich daran, was er der liebreizenden Brigitte antun wollte. Sie weinte, heulte und rang die Hände, dann zog sie sich mit rührend bebenden Händen aus. Erst den Blazer, dann die weiße Bluse, die von ihren Formen fast gesprengt wurde, und das kurze Faltenröckchen. Sie verschränkte verschämt die Arme über ihrem außergewöhnlich üppigen Busen.
Die Stimme krächzte weiter aus den Lautsprechern. »>Wenn du das Leben deines geliebten Vaters retten willst, weißt du, was du zu tun hast<, schrie der teuflische Fouquet.«
Schluchzend zog das Mädchen die Schnürschuhe, die Kniestrümpfe und den Büstenhalter aus. Der teuflische Fouquet wollte ihr in nichts nachstehen und riß sich die Samtjacke vom Leib. Eine unbehaarte, braungebrannte Brust kam zum Vorschein. Brigitte trug nur noch einen aufreizenden Slip, den jede Mutter Oberin, die etwas auf sich hält, sofort mit einer Zange ergriffen und den Flammen übergeben hätte.
»Als der lüsterne Künstler den Versuch unternahm, die anmutige Jungfrau in Positur zu setzen, wurde er von einer Welle der Begierde übermannt.«
Was für eine Überraschung, dachte Barnaby gähnend. Er schlüpfte wieder durch den Vorhang und wartete auf dem kalten Flur. Die langweiligen Posen auf der Bühne öffneten ihm den Blick auf sein eigenes häusliches Leben und die reinen, süßen Umarmungen mit Joyce. Auf den Bakewell Surprise, der scheußlich schmeckte. Auf seine Tochter, die sich herrichtete wie eine an den Strand gespülte Schiffbrüchige und keineswegs geizig war mit bissigen Bemerkungen. Er verglich sie im Geist mit Doktor Lessiters spezieller Freundin und pries sich glücklich.
Ein simulierter orgasmischer Schrei beendete die Vorstellung, und die Voyeure schlurften auf den Flur. Junge, mittelalte, ältere. Niemand war, wie es schien, mit einem Freund oder Kumpan hergekommen. Sie kamen alle einzeln auf den Flur und blinzelten im Licht wie melancholische Maulwürfe. Barnaby wartete noch einen Moment, dann betrat er erneut den Raum.
»Brigitte« hockte in ein Tuch gehüllt auf dem Stuhl des Malers und rauchte. Ihre Haut schimmerte durch den dünnen Stoff. Das perlmuttfarbene Fleisch, die langen, silberblonden Locken und der milchweiße Teint verliehen ihrer Erscheinung eine Gesundheit, die in krassem Gegensatz zu der Umgebung stand. Sie sah aus, als wäre sie viel eher auf einer Farm und in einem Kuhstall zu Hause.
»Gönn uns eine verdammte Pause, Herzchen«, sagte sie zu Barnaby. »Die nächste Show fängt in einer halben Stunde an. Bezahl draußen.« Er zeigte ihr seine Marke. »Verfluchte Hölle.« Sie drückte hastig ihre Zigarette aus, aber ihm war der verräterische Geruch bereits in die Nase gestiegen. »Ich nehme keinen harten Stoff, wissen Sie. Aber irgendwie muß man sich in diesem verdammten Job bei Laune halten.«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen ...«
»Ich sage kein Wort ohne Zeugen.« Sie verschwand durch eine Tür hinter der Bühne in eine so winzige Garderobe, daß Barnaby sich nur noch mit Mühe hinter ihr hineinquetschen konnte. In der Kammer stank es nach billigem Parfüm, Haarspray, Schweiß und Zigarettenrauch. Zwei andere Mädchen saßen auf schmalen Plastikstühlen. Sie trugen zerfledderten Federschmuck und glitzernde Sterne auf den Brustwarzen. Sie taxierten ihn unverhohlen von oben bis unten, dann sahen sie ihn beleidigt an.
»Was hast du verbrochen, Kris?«
»Ihr könnt mich alle mal. Der kann mir nichts anhängen.«
Barnaby zeigte ihr das Foto von Trevor Lessiter. »Kennen Sie diesen Mann?«
»Ja - das ist der arme alte Loveless. Oder Lovejoy, wie er sich selbst nennt. Keine Ahnung, wie er wirklich heißt.«
»War er am letzten Freitag nachmittag hier?«
»Er ist jeden Freitagnachmittag hier. Und am Montag und am Mittwoch. Er macht keine Schwierigkeiten. Ein bißchen masochistisch. Aber meistens verläuft alles ganz normal. Seine Frau läßt ihn nicht ran, müssen Sie wissen.«
»Ja.« Der Zwischenruf von dem roten Federschopf wirkte wie ein Faustschlag. »Er hat ihr einen Nerzmantel zu Weihnachten geschenkt.«
»Ich hab’ mir das mal ausgerechnet«, sagte Krystal, »und es ihm auch gesagt: Ich muß es fünfhundertmal machen, um mir einen Nerzmantel kaufen zu können. Einen anständigen, meine ich - nicht einen, der sofort wieder in den Zoo verduftet, sobald der Pfiff ertönt.«
»Du bist zu kaputt, um so was zu tragen, Kris.«
»Das meinst du vielleicht.« Sie kreischte und kicherte.
»Sie stinken grausam, wenn du damit in den Regen kommst«, sagte die mit den roten Sternchen auf den Brustwarzen. »Zumindest die, die aus den Kaninchenkäfigen gefallen sind.« Noch lauteres Kreischen.
Barnaby machte dem entschlossen ein Ende. »Können Sie mir sagen, um wieviel Uhr Mr. Lovejoy am letzten Freitag gegangen ist?«
»Um halb sechs. Ich weiß das noch genau, weil ich danach für ’ne Stunde abgehauen bin. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehe und irgendwo was esse. Er fragt das immer. Sie wissen schon ... man muß so tun, als würde man sie wirklich mögen, und manche, die schlichten Gemüter, nehmen das für bare Münze. Sie versuchen, einen auch außerhalb zu treffen. Es ist erbärmlich, ehrlich.«
Sie hob beide Hände und zog sich die schweren silbernen Locken vom Kopf. Darunter kamen schmutzige rote Haare zum Vorschein, sie waren kurzgeschnitten und standen nach allen Seiten ab. Sie grinste, als sie den überraschten Blick des Chief Inspectors sah.
»Er dachte, es ist echt - das dachten Sie doch, Herzchen?«
»Ich liebe die Naiven, du nicht?« sagte das Mädchen mit der durchschlagenden Stimme. »Ich könnte mich totlachen über sie.«
»Ich war auch mal naiv«, sagte Krystal. »Ich dachte, ein Dildo ist ein prähistorischer Vogel, bevor ich in dieses Haus kam.«
Krächzendes Lachen; die zerfledderten Federn wackelten. Die Mädchen behielten Barnaby scharf im Auge - sie wirkten wie Raubvögel ohne Schnäbel und Klauen. Barnaby verabschiedete sich und ging.
10
Die kleine Dorfkirche war voll bis auf den letzten Platz. Barnaby schlüpfte unbemerkt durch das Portal und stellte sich hinter eine Säule. Es war ein herrlicher Tag; die Sonne strömte durch die Kirchenfenster. Hinter der Kanzel war alles weiß: der weißhaarige Vikar im weißen Gewand, zwei hübsche Arrangements aus weißen Blumen rechts und links vom Altar, ein schlichter Lilienstrauß auf dem schmalen Sarg.
Die meisten Trauernden trugen normale Kleidung, aber man sah auch Schwarz. Ein paar Männer hatten Trauerflore am Arm, und einige Frauen bedeckten ihre Köpfe mit dunklen Tüchern. Barnaby war erstaunt, daß fast ein Viertel der Trauergemeinde junge Leute unter Dreißig waren.
Miss Bellringer, angetan mit einem rostfarbenen, mit schwarzen Perlen bestickten Gewand, hatte in der rechten vorderen Bank Platz genommen. Ihr Adlerprofil war ausdruckslos unter dem Hut mit dem Federschmuck, ihre Augen trocken. In der linken ersten Reihe (reserviert für den Landjunker und seine Verwandten?) saß Henry Trace, im dunklen Anzug, mit Katherine. Sie trug ein kaffeefarbenes Seidenkleid mit einem schwarzen Chiffonschal, dessen Ränder mit kleinen goldenen Münzen verziert waren. Die Lessiters hatten zwar Plätze in einer Bank, starrten aber alle stur geradeaus, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, daß die drei eine Familie waren. Dennis Rainbird hatte sich in seiner Rolle als Zeremonienmeister selbst übertroffen. Eine große schwarze Schleife schmückte seinen Arm, die Enden reichten ihm bis zur Hüfte. Seine Mutter lehnte matt in der zweiten Reihe, eingehüllt in graue Taftwolken und einen grauen Schleier. Mrs. Quine tupfte sich auffällig eine nicht vorhandene Träne aus dem Auge, und Lisa Dawn saß schniefend neben ihr. Phyllis Cadell trug Dunkelblau, David Whiteley Jeans und ein gestreiftes Hemd. In der hintersten Bank weinte ein alter Mann namens Jake hemmungslos und wischte sich die Tränen mit einem rot getupften Taschentuch von den Wangen. Als sich alle hinknieten, sah Barnaby Michael Lacey, der aufrecht sitzen geblieben war und die ehrerbietige Versammlung mit Ungeduld und Spott überblickte. Er hatte keinerlei Konzessionen an Anstand und Sitte gemacht - er war in einem farbverschmierten Overall und einer Leinenkappe erschienen.