»Ein Mensch, geboren vom Weibe, hat nur eine kurze Zeit zu leben...«
Emily Simpson hatte, verglichen mit dem Rest der Weltbevölkerung, sehr lange gelebt, aber jemand hatte es ihr verwehrt, die ganze Frist auszukosten, die ihr das Schicksal zugedacht hatte. Niemand, dachte Barnaby, sollte einen Tag, eine Stunde oder auch nur eine Sekunde vor seiner Zeit auf die große Reise geschickt werden. Ihm war warm - er lockerte den Kragen, schloß die Augen und legte für einen Moment die Stirn an den kühlen Stein der Säule.
Gestalten bewegten sich vor seinen Augen: die Laceys und Lessiters, Phyllis Cadell, David Whiteley, die Rainbirds, Henry Trace. Sie gingen aufeinander zu, trafen sich und gingen wieder auseinander - ein leidenschaftsloser Tanz. Wer gehörte zu wem? Wenn er das wüßte, wäre das Rätsel gelöst.
Barnaby träumte nachts von dem Pärchen im Wald: zwei umschlungene, zuckende Leiber, weiße Glieder - im einen Moment starr wie Statuen, dann wieder zu einem Ganzen verschmolzen. Letzte Nacht hatten sie sich langsam gedreht, ein Mobile der Lust an unsichtbaren Fäden, und er hatte im Schlaf den Atem angehalten und darauf gewartet, endlich ihre Gesichter zu sehen. Aber als die Gestalten den Kreis vollendeten, blickte er in zwei schneeweiße, haarlose Ovale.
Ein staubwirbelnder Sonnenstrahl tauchte den Lilienstrauß in bernsteinfarbenes Licht. Alle standen auf, um zu singen. Hinter Barnaby schlug ein von einer plötzlichen Windbö gepeitschter Eibenzweig gegen die Fensterscheibe.
Teil 3
Wiederholung
1
An dem Nachmittag der Untersuchung war der Gerichtssaal voll. Jeder einzelne Klappstuhl war besetzt. Ganz Badger’s Drift schien anwesend zu sein. Barnaby sah sich um - nur David Whiteley und Michael Lacey fehlten offenbar. Die Geschworenen - um ernste, gleichgültige und vertrauenerweckende Mienen bemüht - saßen auf ihren Plätzen.
Barbara Lessiter trug ein schwarzweiß gepunktetes Kleid, das besser zu einer Gartenparty gepaßt hätte, dazu einen kleinen schwarzen Hut mit Flitter auf dem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Judy hatte einen hellen Pullover und eine Tweedhose an, Katherine Lacey einen weißen Hosenanzug aus Leinen. Ihr Haar war mit zwei zusammengedrehten Tüchern - leuchtend türkis und grellgelb - zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mrs. Rainbird hatte sich mächtig ins Zeug gelegt und ihre üppige Figur wie ein Weihnachtsgeschenk in schimmernden karminroten Satin verpackt; das Ganze wurde von einem grünen Hut, den kleine Beeren zierten, gekrönt. Der Coroner nahm Platz, und die Sitzung begann.
Die Aussage von Trevor Lessiter wurde vorgelesen. Darin stellte er klar, daß er bei der Untersuchung der Leiche selbstverständlich eine Lungenstauung festgestellt habe; da er Miss Simpson jedoch kurz zuvor wegen einer Bronchitis behandelt hatte, habe er dieses Symptom nicht für auffallend gehalten. Deshalb hatte er natürlich nicht nachgeforscht, ob eine Vergiftung vorlag. Welcher Arzt würde das unter diesen Umständen tun? Der Coroner meinte, man könne ihm daraus keinen Vorwurf machen. Bei diesen Worten starrte Lessiter den Reporter vom Causton Echo intensiv an, um ganz sicherzugehen, daß er das zur Kenntnis genommen hatte. Lessiter Unterzeichnete seine Aussage, marschierte wichtigtuerisch zu seinem Stuhl und setzte sich. Sein runder Schädel und die massigen Schultern wirkten selbst von hinten aufgeblasen und pompös.
Als nächstes las der Schriftführer den Bericht des Pathologen vor. Tuscheln wurde laut, als das Wort »Schierling« fiel, und die Rainbirds waren so aufgeregt, daß sie sich an den Händen hielten. Anschließend gab ein Wissenschaftler vom forensischen Labor Auskunft über die in der Nähe von Badger’s Drift auf dem Waldboden gefundenen Fasern und über die Erd-und Laubspuren, die an den Tennisschuhen der Verstorbenen sichergestellt worden waren und eindeutig aus dem Waldstück stammten.
Zwei Beamte der Spurensicherung beschrieben dieses Waldstück, die Mulde und die Abdrücke ebendieser Tennisschuhe, die darauf hindeuteten, daß Miss Simpson einige Zeit an dieser Stelle gestanden hatte. Barnaby registrierte, daß Miss Bellringers Gesicht rot anlief und den Beamten zornig anfunkelte. Der fuhr in seinem Bericht fort und erzählte von einer Vertiefung - ein paar Meter entfernt von der bewußten Stelle. Art und Ausmaße dieser Vertiefung legten den Schluß nahe, daß jemand, der etwa die Größe und das Gewicht von Miss Simpson hatte, gestürzt war. Der Coroner unterbrach die Sitzung, um Doktor Lessiters Aussage noch einmal überprüfen zu können. Nach der Pause erkundigte er sich bei Lessiter, ob die blauen Flecken an Miss Simpsons Schienbein von diesem möglichen Sturz im Wald herrühren konnten. Der Arzt seufzte abgrundtief und bestätigte diese Annahme in einem Ton, der zum Ausdruck brachte, daß man seine wertvolle Zeit bereits über Gebühr beansprucht hatte.
Die Spurensicherer sprachen über Fingerabdrücke und über die mit einem Bleistift der Stärke 6 B markierten Zeilen im Shakespeare-Band. Der Bleistift war nicht aufgefunden worden. Der Nachmittag schleppte sich dahin. Der Postbote und Miss Lucy Bellringer wurden aufgerufen. Miss Bellringer versicherte dem Gericht, daß das Speisekammerfenster am Morgen nach dem Tod ihrer Freundin unbeschädigt und der Schierling nicht im Haus gewesen sei. Und was den Bleistift 6 B betraf - Miss Simpson hätte nie ihren geliebten Shakespeare verschandelt. »Sie strich niemals etwas in ihren Büchern an. Sie waren ihr viel zu kostbar.«
Detective Chief Inspector Barnaby berichtete von Miss Bellringers erstem Besuch in seinem Büro und seiner Unterredung mit Terry Bazely, was noch mehr Unruhe unter den Zuhörern hervorrief. Als er den Namen Annabella nannte, sah er sich die Gesichter der Reihe nach an. Verständnislosigkeit, nicht die Spur von Erkennen. Er setzte sich wieder und wandte sich den Jurymitgliedern zu. Sie machten einen sehr ernsten Eindruck, und alle waren ganz bei der Sache. Eine der Frauen war bei den Schilderungen ganz bleich geworden. Ein Gerichtsdiener huschte zu ihr und flüsterte ihr etwas zu, aber sie schüttelte den Kopf und rutschte ganz vor an die Stuhlkante.
Der Coroner faßte das Gehörte noch einmal zusammen und schloß die Beweisaufnahme mit den üblichen deutlichen Anweisungen an die Jury. Die Geschworenen berieten sich nur ein paar Minuten und kamen zu dem Urteil, daß Emily Simpson von einer oder mehreren unbekannten Personen ermordet worden war.