Der Reporter vom Echo sprang auf, vielleicht unter dem Einfluß von zuviel film noir, zog hastig seinen nagelneuen hellen Trenchcoat über und raste aus dem Gerichtssaal. Alle anderen ließen sich mehr Zeit, redeten und fragten und beäugten sich mit einer Mischung aus Erregung und Bestürzung wie ein Haufen Kritiker, die Zeugen einer Vorstellung geworden waren, die ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt hatte.
Barnaby sah Barbara Lessiter nach, die am Arm ihres Mannes hinausrauschte. Während der ganzen Anhörung hatte sie ruhig und gelassen gewirkt, aber ihre Hände waren ständig in Bewegung gewesen, Barnaby ging zu der Reihe, in der sie gesessen hatte, und entdeckte auf dem Boden vor ihrem Stuhl ein Häufchen - Barbara Lessiter hatte ein Papiertaschentuch in kleine Stücke zerrissen. Er erinnerte sich an den neulich so schnell versteckten Brief und bedauerte, daß sie einen Hut mit Schleier getragen hatte. Er hätte zu gern ihr Gesicht gesehen, als die Entscheidung der Geschworenen verkündet wurde.
Fast alle waren gegangen. Nur eine Person hockte ein Stück entfernt mit gesenktem Kopf. Barnaby ging zu ihr und ließ sich neben ihr nieder.
»Miss Bellringer ...?« Sie schaute ihn an. Ihre Haut war aschfahl, ihre Augen trüb. »Geht es Ihnen nicht gut?« Da sie nicht antwortete, setzte er hinzu: »Sie sind sich jetzt sicher im klaren, wohin unsere Ermittlungen führen, nicht wahr?«
»Natürlich ... das heißt, ich nehme es zumindest an.« Ihre normale Überschwenglichkeit war wie weggeblasen. Sie sah sehr alt aus. »Aber bis jetzt hat es noch niemand deutlich in Worte gefaßt. Warum ist es jetzt, da es ausgesprochen wurde, um so vieles schlimmer?« Sie richtete einen fragenden Blick auf sein Gesicht, als könne er es ihr erklären. Es entstand eine lange Pause.
Schließlich sagte Barnaby: »Es tut mir leid.«
»So eine Niedertracht.« Zorn zeichnete ihr Gesicht, und ihre Augen blitzten. »Ein Leben lang hat sie sich um andere Menschen gekümmert. Sie war eine wunderbare Lehrerin, eine bessere, als ich jemals war. Und natürlich kannte sie sie, wer immer sie auch waren. Das ist das schrecklichste. Sie muß sie in ihrem Haus willkommen geheißen haben.« Barnaby stimmte ihr im stillen zu. »Sie müssen gefaßt werden«, fuhr sie fort - ihre Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Gut - wie lauten Ihre Anweisungen, Chief Inspector? Was soll ich als nächstes tun?«
»Nichts. Ich fürchte, wir ...«
»Oh, aber ich muß irgend etwas tun. Ich kann mit den Leuten reden, nicht wahr? Herausfinden, ob jemandem irgend etwas auf gefallen ist an dem Tag, an dem sie starb. Und wer diese mysteriöse Annabella sein könnte. Vielleicht erfahre ich, wer sie ist.«
»Tut mir leid, Miss Bellringer...«
»Aber ich muß Ihnen helfen. Sie können sicher verstehen, warum, Chief Inspector.«
»Ich verstehe Sie natürlich, aber...«
»Poirot«, unterbrach sie ihn wehmütig, »hatte seinen Hastings.«
»Und ich, Miss Bellringer, habe die Unterstützung einer modernen Polizeibehörde. Die Welt hat sich verändert.«
»Ihre Leute können nicht überall gleichzeitig sein. Jedenfalls bin ich sicher«, sie legte eine behandschuhte Hand auf seinen Arm, »daß sie nicht so intelligent sind wie Sie.«
»Bitte, seien Sie doch vernünftig«, sagte Barnaby, ohne auf ihre unverhohlene Schmeichelei einzugehen. »Ihre Freundin würde bestimmt nicht wollen, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Was, um alles in der Welt, meinen Sie damit?«
»In einer so kleinen Gemeinde wie Badger’s Drift wäre jedem sofort klar, was Sie beabsichtigen. Jemand hat einmal getötet, und wer glaubt, ein zweiter Mord könnte ihn schützen, zögert sicher nicht, wieder zu töten. Und vergessen Sie nicht«, fügte er hinzu, als sie aufstanden und zusammen zum Ausgang gingen, »daß Miss Simpson ihren Mörder sehr gut gekannt hat - und demzufolge kennen Sie ihn auch.«
2
Um neun Uhr am selben Abend stand Phyllis Cadell neben der Anrichte in dem größeren der beiden Wohnzimmer von Tye House. Sie stand ganz still und lauschte. Sie hatte ihren Nachtisch so schnell hinuntergeschlungen, daß sie fürchtete, die beiden anderen würden etwas bemerken, aber wie gewöhnlich hatten sie nur Augen füreinander gehabt. Phyllis starrte auf die halboffene Tür. Katherine war in der Küche und weichte die Teller im Spülwasser ein. Henry trieb sich bestimmt in ihrer Nähe herum und sah ihr fasziniert bei diesem schwierigen Unterfangen zu. Phyllis nahm hastig den geschliffenen Stöpsel aus der schweren Kristallkaraffe, schnappte sich einen bauchigen Cognacschwenker und füllte ihn mit Brandy. Ein Klirren wurde laut, als sie mit dem Glas versehentlich gegen die Karaffe stieß. Phyllis sah wieder zur Tür, steckte den Stöpsel zurück und begann zu trinken.
Der Brandy war wunderbar. Feurig und stark. Er hüllte ihr Elend in Wärme ein wie ein kuscheliger Mantel. Sie hatten Wein zum Essen getrunken, aber was waren schon zwei Flaschen für drei Personen? Wein wirkte ohnehin nicht mehr. Sie leerte ihr Glas und goß es noch einmal voll. In der Eile verschüttete sie ein bißchen von dem Brandy.
»Sei so lieb und gib mir auch einen kleinen, Phyllis.«
»Oh!« Sie wirbelte herum. Henry rollte über den Teppich. »Selbstverständlich ... entschuldige, ich hab’ dich nicht gehört.« Sie drehte ihm den Rücken zu, versteckte den fast vollen Schwenker hinter einer Pflanze und goß ihrem Schwager einen Drink ein. »Und einen für Katherine?« fragte sie - sie war richtig stolz, daß sie ihre Stimme so gut unter Kontrolle halten konnte.
»Ich denke nicht. Sie trinkt kaum etwas, wie du weißt.« Das braucht sie auch nicht, dachte Phyllis grimmig. Glaubst du, ich würde trinken, wenn ich ihr Leben führen könnte? Aussehen würde wie sie ? Ihre Zukunft vor mir hätte? Sie bedeckte das volle Glas mit der Hand, als sie zum Fenster ging und sich hinter eine große Blumenschale stellte. Sie nahm einen ausgiebigen Schluck.
Allmählich fühlte sie sich besser. Sobald ihre Niedergeschlagenheit geschwunden war, nahm sie ihre Umgebung seltsam verzerrt wahr. Der samtartige Teppich schien zum Leben zu erwachen und sich an ihre Füße zu schmiegen wie eine Katze; die Streifen der Vorhänge wirkten plastisch und sahen plötzlich aus wie Bahngleise. Die Blumen in der Schale verströmten einen schweren, sinnlichen Duft, der ihr heftig in die Nase stieg und sie an die bevorstehende Hochzeit erinnerte. Wenn ihr uns stecht, bluten wir dann nicht? dachte sie in ihrer Verwirrung.
Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht in dem Cottage. Wenigstens stand sie ihnen dann nicht mehr im Weg. Es war ein gut zehnminütiger Spaziergang vom Haupthaus bis zum Cottage, und sie würden wohl kaum dauernd bei ihr vorbeischauen. In der Anfangsphase konnte Phyllis möglicherweise noch mit häufigen Besuchen rechnen, weil sie das schlechte Gewissen plagen würde, sie in die Einsamkeit geschickt zu haben, aber das legte sich sicher rasch.
In der Küche war es jetzt still. Katherine kam bestimmt jeden Augenblick herein. Phyllis atmete tief durch und versuchte, sich zusammenzureißen. Sie zwinkerte heftig und zwang sich dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren, und nicht wie eine verzerrte Zeichnung oder eine unnatürliche lebendige Bühnenkulisse. Sie beobachtete durchs Fenster, wie die zukünftige Braut mit den verwelkten Blumen aus dem Eßzimmer über den Hof ging. Phyllis schaute ihr nach. Kann ja sein, dachte sie, daß es gar keine Hochzeit gibt. Vielleicht hat Katherine vorher einen Unfall - fällt in den See, fährt den Peugeot zu Schrott, gerät in den Mähdrescher. Die Vorstellung machte ihr angst. Nein. Katherine war jung und gesund und würde lange leben, sehr lange. Vielleicht sogar ewig.
Und sie werden Kinder haben. Unter dem kuscheligen Mantel bohrte sich ein Messer in ihr Fleisch. Dann konnte sie sich nützlich machen. Arme alte Tante Phyllis. Komische alte Tante Phyllis. Eine Träne fiel in ihr leeres Glas. Guter Gott, sie brauchte noch was zu trinken. Allmählich drang Henrys Stimme in ihr Bewußtsein.