Barnaby spielte mit dem Gedanken, daß der Mörder oder die Mörderin frei und ungebunden sein könnte und nur getötet hatte, um den Ruf seiner Gespielin oder ihres Geliebten zu wahren. Es klang ein bißchen weit hergeholt, aber wenn das angetraute Ehegespons die Brieftasche festhielt, lag es im Bereich des Möglichen. Geld und Sex. Das gehörte zusammen. Und beides war ein Motiv für Mord, seit es Morde gab.
Zwei Tage waren seit der Beerdigung vergangen, und Barnaby hatte einen davon damit verbracht, mit allen Mitgliedern der Jagdgesellschaft über Mrs. Traces Tod zu sprechen - nur den Farmersjungen und die beiden Gutsbesitzer in der Nachbarschaft von Tye House hatte er Troy überlassen. Er hatte kaum etwas Neues erfahren, nur ein kleines Detail war ihm bis gestern unbekannt gewesen: Phyllis Cadell befand sich, als der Schuß fiel, bereits auf dem Heimweg nach Tye House, weil sie der Jagdausflug gelangweilt hatte. Henry Trace war überrascht gewesen, daß sie sich ihnen überhaupt angeschlossen hatte. Phyllis behauptete, daß Bella sie dazu überredet hatte. In ihrer Jugend war Phyllis öfter auf die Jagd gegangen, und sie konnte mit einem Gewehr umgehen, aber sie hatte den Geschmack an Vergnügungen dieser Art verloren. »Ich bereute schon, als wir aufbrachen, daß ich Bellas Bitte nachgegeben hatte. Aber ich hielt eine Weile aus, dann beschloß ich, nach Hause zu gehen. Ich wollte nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf mich ziehen, deshalb machte ich mich ohne viele Worte auf den Weg.«
Wieder ein Beispiel für untypisches Verhalten. Barnaby konzentrierte sich auf seine Karteikarten und auf Miss Simpson. An dem Tag, an dem sie starb, hatte sie sich auch untypisch benommen. Bestand ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Todesfällen? Es gab keinen logischen Grund für diese Annahme. Trotzdem ließ ihn dieser Gedanke nicht los. Barnaby las das Protokoll der gerichtlichen Untersuchung in dem Zeitungsartikel noch einmal durch, obwohl er ihn bereits im Schlaf hätte aufsagen können, und erinnerte sich an sein spontanes Gefühl, daß irgend etwas an dieser Geschichte mit dem Jagdunfall nicht stimmte und keinen rechten Sinn ergab, aber inzwischen kamen ihm die Worte so schal vor, daß er sich fragte, woraus dieser erste Impuls entstanden sein könnte. Sicherlich hatte das wiederholte Lesen nichts dazu beigetragen, sein instinktives Gefühl zu erhellen.
Am Morgen hatte er mit Norah Whiteley im Büro ihres Schuldirektors, der sich taktvoll zurückgezogen hatte, gesprochen. Sie war eine dünne Frau mit bitterem Zug um den Mund und kleidete sich fatalerweise zu jugendlich. Was sie ihm zu sagen hatte, war beunruhigend.
»Ich habe David verlassen, weil ich Angst vor ihm hatte. Mit den anderen Frauen hätte ich mich abfinden können, wenigstens ließ er mich dann in Ruhe. Aber er war gewalttätig. Man wußte nie im voraus, was ihn in Rage bringen würde. Das Abendessen war nicht so, wie er es wollte; das Auto sprang nicht an - solche Sachen reichten schon aus. Ich selbst wäre damit fertig geworden, aber als er anfing, auf Jamie loszugehen ... Ich forderte ihn auf zu gehen, und als er keine Anstalten machte, packte ich seine Sachen, stellte sie vor die Haustür und ließ die Schlösser auswechseln. Trotzdem mußte ich vor Gericht gehen, um ihn davon abzuhalten, uns weiter zu belästigen.«
»Darf er den Jungen sehen?«
»Nein.« Ihre Miene war hart, unglücklich und dennoch zufrieden. »Er hat ein Besuchsrecht beantragt, aber ich konnte es abwenden. Es war ein erbitterter Kampf. Ich konnte nicht sicher sein, daß er Jamie nicht schlägt.«
»Wissen Sie, ob er im Moment eine ... Affäre mit jemandem hat?«
»Bestimmt. David ist nie lang ohne Frau. Er ist sexbesessen.«
Barnaby sah im Geiste David wieder nah bei Katherine Lacey am Küchentisch von Tye House sitzen. Damals hatte er den ersten Eindruck, den diese Szene auf ihn gemacht hatte, Verworfen. Eine Spur von D.H. Lawrence. Und diese wundervollen glühend leidenschaftlichen Filme seiner Jugend: Frau ohne Gewissen. Im Netz der Leidenschaften. Es war alles da: die schöne Frau eines anderen, der unzulängliche Ehemann, der starke, gesunde Kerl. So offensichtlich - ein Klischee. Und dennoch... oft stellt sich das Augenfälligste zu guter Letzt doch als Wahrheit heraus.
Aber Barnaby konnte nicht behaupten, irgendwelche Anzeichen von schlechtem Gewissen bemerkt zu haben, als er aufgetaucht war und die beiden aufgescheucht hatte. Whiteley hatte einen deprimierten, gereizten Eindruck gemacht, Katherine hatte lediglich Interesse und Betroffenheit über Miss Simpsons Tod gezeigt. Und sie wirkte irgendwie kühl, beinahe rein und geschlechtlos bei all ihrer Schönheit. Er konnte sich denken, daß sie ihren Körper dem rechtmäßigen Besitzer anbot, wenn alle Formalitäten geregelt waren - nicht notwendigerweise ohne Liebe. Er traute ihr ein gewisses Maß an Zuneigung zu, aber es fiel Barnaby schwer, sie sich als eine Frau vorzustellen, die sich von der Leidenschaft so mitreißen ließ, daß sie ihre goldene Zukunft aufs Spiel setzte.
Mit David Whiteley war das anders: Er war unmoralisch, selbstsüchtig und, wie sich jetzt heraus gestellt hatte, gewalttätig. Barnaby sah ihn ohne große Schwierigkeiten in der Rolle des Mörders. Seltsamerweise war der Mord an Miss Simpson jedoch nicht brutal, sondern eher subtil gewesen. Der Gutsverwalter hätte wohl kaum die Zeilen in Julius Caesar angestrichen, und ganz bestimmt konnte er sich mit seinen breiten Schultern, den kräftigen Armen und Beinen nicht durch das Speisekammerfenster zwängen. Zudem würde er wohl niemals einen Mord begehen, um jemandes Hals zu retten, es sei denn, es wäre sein eigener. Barnaby gab der Hängeregistratur einen Schubs. Unwillkürlich fiel ihm der Vergleich mit dem russischen Roulette ein, als die Karteikarten herumwirbelten. Fünf leere Kammern, in der sechsten die Kugel, mit der man sich das Hirn aus dem Schädel blasen konnte. Er trank seinen Kaffee und freute sich, nur urzeitlichen Kaffeesatz und nichts, was einem lebendigen Wesen ähnelte, auf dem Boden der Tasse zu entdecken. Das Telefon klingelte.
Einen Augenblick später rief die Polizistin Brierley: »Ich habe eine Mrs. Sweeney in der Leitung, Sir. Sie möchte mit jemandem sprechen, der für die Ermittlungen im Mordfall Simpson zuständig ist.«
»Stellen Sie durch.«
»Hier spricht Mrs. Sweeney vom Black Boy Pub. Wer ist am Apparat?«
»Detective Chief Inspector Barnaby.«
»Sind Sie der Gentleman, der neulich ein Käsebrot und ein Bier bei mir bestellt hat?«
»Ganz recht.«
»Gut. Ich denke, Sie sollten herkommen. Bei den Rainbirds ist irgendwas los.«
»Was denn?« Mrs. Sweeneys Stimme, die er als trübsinnig in Erinnerung hatte, vibrierte vor Aufregung.
»Ich weiß nicht genau ... es klingt fast, als würde jemand singen, aber so einen Gesang hab’ ich noch nie in meinem Leben gehört - eigentlich ist es mehr ein Heulen. Und es geht schon Ewigkeiten so.«
Dieser Moment blieb Barnaby unauslöschbar im Gedächtnis. Als er den Hörer auflegte, spürte er ganz deutlich, daß sich die Maschinerie des Falls, die durch Alibis, ungeprüften und nicht überprüfbaren Behauptungen sowie durch wohlüberlegte Täuschungsmanöver mindestens zweier Personen nahezu zum Stillstand gekommen war, wieder in Bewegung Setzte. Aber noch ahnte er nicht, mit welcher Geschwindigkeit die Maschinerie lief oder daß eine unbekannte Hand einen Schraubenschlüssel in das Räderwerk werfen und damit Schreckliches anrichten würde.
Ungefähr fünfzig Menschen drängten sich vor dem Gartentor von Tranquillada. Sobald Troy den Motor abstellte, konnten er und Barnaby die seltsamen Laute hören. Ein grausiges Wehklagen, Mrs. Sweeney eilte auf sie zu.
»Nach unserem Telefongespräch habe ich geläutet, aber niemand hat reagiert. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen.«
Die beiden Männer gingen über den Weg zur Haustür. Niemand versuchte, ihnen zu folgen. Das allein schon drückte das Grauen aus, das in der heißen, reglosen Luft lastete. Normalerweise muß man sie mit Gewalt zurückhalten, schoß es Barnaby durch den Kopf. Er stand neben Troy auf den Stufen. Das Heulen hielt an. Barnaby fragte sich, wie etwas, was so emotionslos erschien, eine solche Auswirkung auf die Zuhörer ausüben konnte. Das Jaulen verstummte und begann wieder - mit unmenschlicher Regelmäßigkeit, als würde man eine Schallplatte mit Sprung abspielen. Nachdem er den Türklopfer ohne Erfolg betätigt hatte, kauerte sich Barnaby nieder und rief durch den Briefschlitz: »Mr. Rainbird ... öffnen Sie die Tür.«