»O ja.« Sie gingen zum Haus zurück. Barnaby spähte durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Es wimmelte vor Leuten, die scheinbar ziellos hin und her liefen. In Wahrheit katalogisierten und untersuchten sie, wie Barnaby wußte, jeden Hinweis und jeden Gegenstand. Heute war die Spur noch warm. Man würde Anhaltspunkte finden. Niemand tötete, ohne etwas vom Tatort mitzunehmen (meistens unbewußt) oder etwas zu hinterlassen.
Er bahnte sich einen Weg zur Küchentür, blieb stehen und schaute zurück. Er dachte daran, daß ein Gärtner unmöglich seine Persönlichkeit verbergen konnte. Ein Garten sagte beinahe ebenso viel aus wie Träume. Ungekünstelte Harmonie bei Miss Simpson; wilde Überschwenglichkeit bei Miss Bellringer; aber hier... er betrachtete die Ziersträucher, den gleichmäßig geschnittenen Rasen, den Teich mit dem Steincherubim, der auf eine Plastiklilie pinkelte. Dies hier war offen vulgär - sprichwörtlich in voller Blüte.
Er betrat den Flur. Ein Paar schwarze Schuhe erschien über seinem Kopf auf der Holztreppe zum Dachgeschoß, dann eine Tweedhose, ein kurzärmliges Hemd und ein bärtiges, erhitztes Gesicht.
»Sind Sie fertig da oben?« fragte Barnaby.
»Wir haben alles, ’ne Menge Fingerabdrücke. Sieht aus, als würden sie alle von ein und derselben Person stammen. Bald wissen wir Genaueres.«
Barnaby stieg die Treppe hinauf. Es waren ungefähr ein Dutzend breite, massive Stufen. In anderen Häusern dieser Art führten steile Aluminiumtreppen auf den Dachboden. Zweifellos hatte Mrs. Rainbird die Luke vergrößern lassen, um ihren Beobachtungsposten bequem erreichen zu können. Rechts und links von der Luke war ein Geländer angebracht. Barnaby bemühte sich hinauf, Troy dicht hinter ihm.
Der ausgebaute Raum unter dem Dach war sehr groß, mit rohen Balken an der Decke, weißen Wänden und einem beigefarbenen Teppichboden. An beiden Stirnseiten befand sich je ein rundes Fenster, und vor jedem Fenster standen ein schlichter Holzstuhl und ein Tischchen mit Notizbuch und Kugelschreiber. Auf der Sitzfläche des einen Stuhls lag ein Fernglas. Außerdem gab es noch zwei große graue Aktenschränke, das war alles. Barnaby, der mit dem üblichen Plunder, barocken Möbeln und Plüsch gerechnet hatte, war erstaunt. Er nahm das Fernglas und schaute auf die Straße.
Ein Gesicht in der Menge sprang ihm ins Auge. Jedes Detail war erstaunlich genau zu erkennen - die großen Poren, die Haare in der Nase, pinkfarbene Plastiklockenwickler und jedes einzelne Blütenblatt auf dem geblümten Kopftuch. Barnaby verdrehte die Optik und gewann einen breiteren Blickwinkel. Der Parkplatz vor dem Black Boy Pub war voll, und ständig fuhren weitere Autos vor. Alles, was Beine hatte, schien sich da draußen zu tummeln. Es war kein schöner Anblick.
»Räumen Sie die Aktenschränke aus, Sergeant, und bringen Sie das Zeug hinunter.« Er legte das Fernglas weg, blätterte in einem der Notizbücher und schlug wahllos eine Seite auf. Dort stand:
10.30 Mr. und Mrs. W überqueren die Straße, um Miss G. aus dem Weg zu gehen. Der Streit wegen des Preises für den schönsten Eierkürbis ist offenbar noch nicht ausgestanden.
11.14 Mrs. R macht einen Besuch bei Mrs. S. Bleibt fünf Minuten. Einkaufstasche - leer bei der Ankunft, prall voll, als sie geht. Heimweg über Postamt.
12.00 Mrs. W, Mrs. G und Miss K schwatzen zwanzig Minuten hinter dem Briefkasten. Miss K geht als erste. Törichte Person.
12.42 Mr. und Mrs. D gehen mit einem Strauß Rosen in die Kirche.
13.00 Sieben Autos vor dem Black Boy. Einige von außerhalb. (Fünf Autonummern waren aufgelistet.)
15.20 Mr. Y geht in Ds Cottage - mit einer Flasche Wein. 16.58 Mrs. L fährt mit ihrem Wagen in die Garage von W. (Hinter diesen Eintrag hatte Mrs. Rainbird ein rotes Sternchen gemalt.)
17.03 Mr. Y verläßt das Cottage. Gibt zwei Briefe auf. Geht wieder nach Hause.
Barnaby klappte das Buch zu. Mrs. Rainbirds tägliche Beschäftigung überraschte ihn keineswegs. Er hatte nie die enorme Befriedigung unterschätzt, die manche Menschen empfanden, wenn sie über die Tätigkeiten und den Umgang der Nachbarn ganz genau Bescheid wußten. Das Bedürfnis, die Nase in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken, schien ein menschlicher Wesenszug zu sein und war an sich wohl kaum so verwerflich, daß man es als ernsthaftes Vergehen bezeichnen konnte. Wenn er sich selbst nicht ständig um das Verhalten anderer Leute kümmern wollte, hätte er nicht diesen Beruf ergriffen. Er sah zu, wie Troy einen großen Stapel Schnellhefter die Treppen hinunterschleppte.
Nein. Barnaby maß der Entdeckung, daß Mrs. Rainbird die Leute beobachtet hatte, statt den Flug von Ziegenmelkern zu studieren, wenig Bedeutung bei; vielmehr interessierte ihn, was sie mit dem Wissen angefangen hatte, das sie sich auf diese Weise aneignete. Dieser Raum wirkt so spartanisch und beinahe grausam funktionell, dachte er, als er die restlichen Akten aus dem Schrank holte, die Notizbücher zusammenpackte und sich daran machte, Troy zu folgen. In den unteren Räumen verriet jedes Detail Maßlosigkeit und Wollust, aber das hier oben war etwas anderes. Dieses Zimmer, überlegte Barnaby und sah sich ein letztes Mal um, ist geschäftsmäßig - eine Art Büro.
4
Die Ankunft der transportablen Baracke mit der Einrichtung für die Spurensicherer verursachte einen Tumult. Die Zugmaschine fuhr wieder weg. Eine hydraulische Maschinerie ertönte, vier Pfosten wurden ausgefahren, und der Container stand einsatzbereit. Ein Mann in der Menge rief: »Schön, die Wanderbibliothek ist da - habt ihr eure Bücher mitgebracht?« Lautes Gelächter. Eine Frau sagte: »Robbie, lauf heim und sag deiner Mum, daß die Marsmännchen gelandet sind.« Generator und Kabel wurden installiert und eine Telefonleitung eingerichtet.
Sobald Barnaby auf die Straße kam, stürzte der Echo-Reporter im weißen Trenchcoat - diesmal trug er dazu einen Fred-MacMurray-Filzhut - auf ihn zu.
»Chief Inspector, können Sie ein Statement für die Presse abgeben?«
»Nein, im Moment nicht.«
»Die Öffentlichkeit hat das Recht, alles zu erfahren.« Lieber Gott. Ein Dialog aus den Universal Pictures. »Stimmt es, daß ein grausiger Mord geschehen ist?«
»Es gibt einen verdachterregenden Todesfall, ja.«
»Oh, kommen Sie schon, Inspector Barnaby. Was ist in diesen Akten?«
»Bitte ... o bitte ...« Ein junges Mädchen mit Kassettenrecorder vertrat ihm den Weg. »Leiten Sie die Ermittlungen in diesem Fall?« Sie klang atemlos und munter, als wäre sie auf dem Weg zu einer Party. »Ich bin vom Lokalsender«, fügte sie hinzu und hielt ihm ein vor Windgeräuschen geschütztes Mikrophon vor die Nase. »Wenn Sie mir jetzt Informationen geben, können wir sie in den Sieben-Uhr-Nachrichten bringen.«
»Tolle Sache«, brummte Troy.
»Wurde schon ein Pressesprecher bestimmt?« rief der Reporter und schob sich vor das Mädchen.
»Nein. Geben Sie uns die Chance, erst mal Luft zu holen«, versetzte Barnaby unwirsch und drängte sich an den beiden vorbei.
»Aber, Inspector ...«
Barnaby hörte noch, wie einer der Dorfbewohner (der Mann, der vorhin die Bemerkung über die Bibliothek gemacht hatte) die Stunde seines möglichen Ruhmes nutzte. »Oh, es war schrecklich. Grauenvoll«, kreischte er ins Mikrophon. »Der Sohn hat’s getan ... er kam aus dem Haus, war über und über voll Blut. Sie haben ihn mit einem Krankenwagen weggebracht. Sie glauben, er hatte einen Anfall. Er ist ein komischer Kauz, schwul, verstehen Sie? Solche Leute rasten manchmal aus ...«
»Aber wer ist getötet worden?« fragte das Mädchen.
»Na ja, ich denke doch die Mutter, oder nicht?« Er sah sich mit strahlendem Blick um. »Ist die Kamera auf mich gerichtet?«
Barnaby verstaute die Schnellhefter im Kofferraum des Wagens und schloß ihn ab.
»Die lassen sich nicht lange Zeit, bis sie überall herumschnüffeln«, sagte Troy.