»In fast jedem Dorf gibt’s jemanden, der die Lokalpresse mit Informationen versorgt. Normalerweise berichten sie über die Frauenorganisation und Blumenschauen. Ich denke, sie haben sofort in den Redaktionen Alarm geschlagen.« Er marschierte entschlossen die Church Lane entlang, und Troy eilte an seine Seite.
Als sie den Weg mit dem Schild nach Gessler Tye erreichten, erkundigte sich Troy: »Wollen Sie sofort mit den Verdächtigen sprechen, Sir?«
Barnaby gab keine Antwort. Er atmete schnell, sein Gesicht war gerötet, und er preßte die Lippen zusammen. Der Mord an Mrs. Rainbird hatte den Fall ins Rollen gebracht - gestern noch hatte er sich mit dürren Fakten herumgeschlagen und war auf der Stelle getreten, und plötzlich gab es ungeahnte neue Einblicke und Möglichkeiten. Und obwohl der Mörder nach wie vor gesichtslos blieb, gab es jetzt eine ganz frische Fährte. Barnaby spürte, daß seine Beute nicht mehr fröhlich und unbekümmert vor ihm herlief, sondern einen Unterschlupf suchte und witterte, daß die Entfernung zwischen ihnen immer geringer wurde.
Vor vielen Jahren war ihm deutlich bewußt geworden, welch freudige Erregung ihn jedesmal erfaßte, wenn er an diesem entscheidenen Punkt anlangte, und die Erkenntnis hatte ihn niedergeschmettert. Ihm war klar, daß er im Grunde nur die Rolle eines Menschenjägers spielte. Er hatte sich eine Zeitlang um eine distanziertere, weniger persönliche Einstellung zu seiner Arbeit bemüht und sich selbst vorgemacht, daß dieses prickelnde Gefühl, wenn er das Netz enger zog, gar nicht existierte. Oder sich eingeredet, er brauchte sich wegen dieser Empfindung nicht zu schämen. Als alle Anstrengungen fehlschlugen, machte er eine andere, etliche Jahre andauernde Phase durch: Er spielte den harten Mann und ignorierte oder erstickte wütend alle Emotionen. Verbrecher waren Abschaum. Sie verstanden nur eine Sprache, und wenn man ihnen auch nur eine Handbreit nachgab, schnitten sie einem die Kehle durch. Man mußte wissen, wie man sie anzupacken hatte.
Er war die Hierarchieleiter hinaufgeklettert und ständig befördert worden. Er war gut in seinem Job. Er hatte während dieser Zeitspanne drei Männer gefaßt, die nach dem Prozeß gehängt wurden. Und Barnaby wurde Respekt entgegengebracht, häufig von Leuten, die er verabscheute. Aber während er einen Schutzwall aus Haß gegen die Kriminellen errichtete, wuchs unaufhörlich seine Selbstverachtung. Eines Tages wurde ihm plötzlich bewußt, daß er lieber sterben würde, als der Mann zu sein, zu dem er sich langsam entwickelte.
Er hatte George Bullard konsultiert, vage von Streß und Kopfschmerzen gesprochen und wurde ohne weitere Nachfragen für einen Monat vom Dienst beurlaubt. Diese freie Zeit füllte er mit Gartenarbeit, Aquarellmalerei und Gesprächen mit Joyce aus. Am Ende des Monats war ihm klar, daß er keinen anderen Beruf wünschte und der Panzer Risse bekommen hatte, die nicht mehr zu kitten waren. Und so ging er an seine Arbeit zurück - zunächst mit einem unsicheren Gefühl, das jedoch seiner Kompetenz keinerlei Abbruch tat. Er merkte, daß er in den Augen der Kollegen, die wie er früher rasche Schlüsse zogen und extreme Ansichten vertraten, zum Schlappschwanz geworden war. Zudem wurde es ihm als Schwäche ausgelegt, daß er seine Unbeugsamkeit abgelegt hatte und die Kriminellen wie menschliche Wesen behandelte. Im Laufe der Zeit gelang es ihm jedoch, dieses Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Und jetzt, während er den staubigen Feldweg entlangspazierte, hatte er das Gefühl, im Kreis gegangen zu sein. Ein Polizist, der weder Stolz noch Scham bei seinem Job empfand, war dem Ende seiner Karriere nahe. Er spürte die Erregung bei einer Mörderjagd und akzeptierte sie als Tatsache des Lebens. Als Teil seiner selbst.
Troy berührte seinen Arm. Sie hatten die Hälfte des Weges zum Holly Cottage hinter sich gebracht. Barnaby blieb stehen und horchte. Jemand schrie wütend, aber die Worte blieben unverständlich. Die beiden Männer pirschten sich leise an und hielten sich hinter der hohen Hecke verborgen, bis sie die Durchfahrt erreichten. Als sie sich dem Haus näherten, hielten sie sich im Schatten der Bäume. Ein Fenster im Erdgeschoß war weit geöffnet, und jetzt waren die Worte deutlich zu verstehen.
»Aber du mußt kommen, Michael.. .du mußt!«
»Ich muß gar nichts. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich mit einer Nelke im Nasenloch und zwei verdammten Kerzenleuchtern auftauche und zusehe, wie du dich an den Meistbietenden verkaufst.«
»So ist es doch gar nicht. Du bist so unfair. Ich mag ihn, ehrlich. Was soll ich machen? Er hat jahrelang für uns gesorgt.«
»Ich habe noch nie so eine sentimentale Scheiße gehört. Ich könnte kotzen. Du hast ihm Sand in die Augen gestreut, dem armen Teufel.«
»Das ist eine Lüge! Er weiß genau, was los ist... ich habe ihm nie etwas vorgemacht, was ich nicht wirklich fühle. Ich werde ihm eine gute Frau sein ...«
»Guter Gott! Du bist bis in alle Ewigkeiten an einen Krüppel gebunden!«
»Du willst mich einfach nicht verstehen. Dein Leben ist ganz anders. Du hast nichts anderes im Kopf als deine Arbeit. Das ist alles, worum du dich jemals gekümmert hast. Solange du nur malen kannst, kann die Welt um dich herum versinken. Aber ich bin nicht wie du. Ich habe für nichts ein spezielles Talent, und gelernt habe ich auch nichts. Ich besitze kein Geld und hätte nicht einmal ein Dach über dem Kopf, wenn Henry nicht gewesen wäre. Um Himmels willen, Michael, was ist so falsch daran, wenn ich Sicherheit und Geborgenheit haben will...«
»Wir hatten Geborgenheit. Er hätte uns nie von hier fortgeschickt. Er ist so vernarrt in dich, daß du ihn noch jahrelang um den Finger hättest wickeln können.«
»Aber ich wollte nicht mehr in diesem feuchten, finsteren Loch bleiben. Ich hasse dieses Haus.«
»Na ja, jedenfalls verkaufst du dich nicht billig. Tye House und riesige Ländereien. Mir ist schleierhaft, warum du dich nicht gleich auf die Straße stellst und einen anständigen Job daraus machst.« Ein Klatschen wie eine Ohrfeige. Michael brüllte: »Elendes Miststück!« Katherine stieß einen Schrei aus. Barnaby zerrte seinen Sergeant hinter eine Lärchengruppe. In der nächsten Sekunde rannte Katherine an ihnen vorbei. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie schluchzte erstickt, als sie in Richtung Church Lane verschwand. Die Cottagetür schlug zu, und Michael stand einen Moment unschlüssig auf der Veranda, dann wirbelte er herum, lief in den Wald hinter dem Haus und trat wütend gegen Zweige und Steine, die ihm im Weg waren.
Sobald er außer Sicht war, ging Barnaby auf das Haus zu, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Troy versuchte, seine Überraschung zu verbergen, und ging ihm nach. Wenn ich das vorgeschlagen hätte, dachte er, hätte er mich zur Sau gemacht.
Sie standen im Flur, und die feuchte Kälte kroch ihnen in die Knochen. Es schien ganz natürlich zu sein, daß diese Wände Zeugen von bitteren Worten, Tränen und Kummer waren. Barnaby spürte, daß jedes zufällige Glücksgefühl, das in so einem Gemäuer eingekerkert war, keine Chance hatte, zu wachsen und zu gedeihen, sondern wie das Geißblatt draußen auf der Veranda langsam, aber sicher von Verzweiflung erstickt wurde. Er ging in die Küche. Es war kein hübscher, behaglicher Raum. Die Möbel waren billig und abgenutzt. Ein paar kleine Teppiche lagen auf dem kalten, unebenen Steinboden. Barnaby sah eine halbleere Dose mit Spaghetti und einen schief angeschnittenen Brotlaib, einen Becher, eine Teekanne und eine kleine Flasche mit angedickter, sauer gewordener Milch auf dem Tisch. Überall saßen Fliegen.
Das nächste Zimmer, das auf die Veranda blickte, war mit einem Strohteppich, einem Tisch, vier Stühlen, Bücherregalen, einem zweisitzigen Sofa und einem Telefon eingerichtet. Das zweite Zimmer im Erdgeschoß war abgeschlossen.
»Da drin hat er gemalt, als wir das letzte Mal hier waren, stimmt’s?«
»Ja.« Barnaby versuchte noch einmal die Tür zu öffnen, gab dann aber seine Bemühungen auf. »Ohne Durchsuchungserlaubnis können wir nichts machen. Wir haben heute schon genügend Vorschriften verletzt.«