Ganz recht, dachte Troy und folgte seinem Boß die kahle Stiege hinauf. Er konnte nicht verstehen, warum sie überhaupt hier herumschnüffelten. Bestimmt waren sie nur hergekommen, um Laceys Alibi für den Nachmittag zu überprüfen, oder?
»Je mehr Sie über einen Verdächtigen wissen, Sergeant, um so mehr Trümpfe haben Sie in der Hand. Sein persönliches Umfeld ist wichtig.«
Troy blinzelte alarmiert, weil sein Boß so mühelos seine Gedanken erriet. Diese Entwicklung beunruhigte ihn sehr. Wenn ein Mann selbst seine Gedanken nicht mehr für sich behalten konnte, würde er sein Leben lang Sergeant bleiben.
Oben befanden sich drei Schlafzimmer. Im kleinsten standen ein schmales Bett, ein Schrank und eine Kommode. Das Bett war hart und stabil - ein Krankenhausbett -, die Decke straff gezogen. Ein ordentlich zusammengefaltetes Nachthemd lag auf dem Kopfkissen. Der Schrank war fast leer, und auf der Kommode lag eine dünne Staubschicht. Ein Strauß Wildblumen in einem Krug verbreitete einen feinen Duft. Wieder fühlte sich Barnaby an die armseligen Geißblattblüten zwischen den alles erstickenden Nesseln erinnert.
Das angrenzende Zimmer war viel größer und bis auf ein schmales, altmodisches Bett, zwei Korbstühlen und einen Gartentisch leer. »Ich nehme an, hier hat die Nanny geschlafen«, mutmaßte Troy.
Das dritte Schlafzimmer, das größte, wurde ohne Zweifel von Michael Lacey bewohnt. Das große Doppelbett war ungemacht, das Laken zusammengeknüllt, eins der Kissen lag auf dem Boden. Ein Becher mit einem grauen, ekligen Kaffeerest stand auf dem verkratzten Nachttisch neben einem Exemplar von Vasaris Lebensgeschichten der hervorragendsten italienischen Architekten, Maler und Künstler und einem Päckchen Gitanes. Der scharfe Geruch der Zigaretten lag in der Luft und mischte sich mit schalem Schweißgestank. Auf dem einzigen Stuhl häuften sich Kleider. Sergeant Troy, >täglich sauber geschrubbt und immer frische Wäsche<, wie seine Frau in der Wäscherei stets prahlte, rümpfte die Nase.
»Ein bißchen unbedacht«, sagte er, als sie nach einiger Zeit wieder in den unteren Flur kamen, »das Haus nicht abzuschließen.«
»Ach, ich weiß nicht.« Barnaby zog die Haustür einen Spalt auf und spähte nach allen Seiten, dann ging er hinaus. »Das einzige Zimmer, in dem etwas Wertvolles sein könnte, ist abgesperrt.«
»Große Werke des großen Künstlers, meinen Sie?« spöttelte Troy.
»Ich dachte an die Leinwände - sie kosten verdammt viel Geld. Genau wie die Farben. Vielleicht macht er’s ja auch wie Keating.«
»Wie bitte, Sir?«
»Tom Keating ist ein sehr erfolgreicher Fälscher.«
»Was immer Lacey auch macht, erfolgreich ist er sicher nicht. Ich kenne Familien, die von der Fürsorge leben, und bei denen sieht’s besser aus. Er hat nicht mal einen Fernseher.«
»Noch tiefer kann man nicht sinken.«
Troy musterte seinen Boß argwöhnisch, aber Barnabys Ausdruck verriet nichts. Als sie zur Church Lane kamen, sahen sie, daß einige Streifenwagen am Tatort eingetroffen waren. Die Menschenansammlung, größer geworden durch die heimkehrenden Arbeiter, wurde eindringlich aufgefordert, den Platz zu räumen und nach Hause zu gehen. Barnaby fragte sich, wie lange es noch dauern konnte, bis die überregionale Presse mit großem Aufgebot auftauchte. Spekulationen wurden laut, als Barnaby und Troy auf Lessiters Haus zugingen, und alle redeten aufgeregt durcheinander. Die Tatsache, daß alle Dorfbewohner in Kürze vernommen würden, war zwar allen bekannt, aber daran dachte jetzt niemand. Die Polizei stattete den Lessiters einen Besuch ab, also mußten die Lessiters in irgendeiner Weise in das Verbrechen verwickelt sein.
Als Barnaby wieder einmal neben der rankenden Clematis stand und durch das Fenster sah, entdeckte er, wie neulich, Barbara Lessiter. Diesmal wirkte sie jedoch keineswegs verängstigt oder erschrocken. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Schultern waren gestrafft und ihre Hände zu Fäusten geballt. Er hörte Lessiter schreien: »Letzte Nacht im Bett hast du ganz andere Töne angeschlagen.«
»Das war letzte Nacht.« Sie warf den Kopf zurück, und Barnaby erhaschte einen Blick auf ihr wutverzerrtes Gesicht. Troy zog spöttisch die sandfarbenen Augenbrauen hoch und murmelte: »Aber, aber« und drückte auf den Klingelknopf.
Als Barnaby ins Wohnzimmer kam, hatte er das Gefühl, ein Schlachtfeld zu betreten. Der Rauch der letzten beiden abgefeuerten Salven schien noch bebend in der Luft zu schweben. Barnaby gab ihnen einen Moment Zeit, ehe er sich vergewisserte, ob sie von dem Mord an Mrs. Rainbird gehört hatten.
»Eine schreckliche Sache, einfach schrecklich!« rief Lessiter. »Mit der Axt den Schädel eingeschlagen, soviel ich gehört habe. Ich vermute, er hatte eine Art Anfall... Dennis, meine ich. Zumindest«, setzte er hinzu und verzog dabei verächtlich die Lippen, »kann mir diesmal niemand vorwerfen, daß ich den Totenschein falsch ausgestellt habe.«
Die Lessiters betrachteten die beiden Polizisten interessiert - zweifellos waren sie froh über die Verschnaufpause. Doch der Doktor wahrte nicht lange seine distanzierte, leicht überhebliche Haltung, als Barnaby ihn fragte, wo er sich zwischen drei und fünf Uhr an diesem Nachmittag aufgehalten habe.
»Ich?« Er starrte den Chief Inspector fassungslos und mit offenem Mund an. Das Blut wich aus seinem runden Gesicht. »Was, um alles in der Welt, hat die Geschichte mit mir zu tun?«
»Alle werden in einem Mordfall befragt, Liebling.« Barnaby schätzte sich glücklich, daß ihn noch nie jemand auf diese Weise »Liebling« genannt hatte. »Was ist daran so schlimm?«
»Nichts.« Er ging zu seinem Schreibtisch. »Also gut, Inspector. Ich... habe einen Privatpatienten besucht. Ich schreibe Ihnen den Namen und die Adresse auf.« Er kritzelte etwas auf einen Block, riß den Zettel ab und hielt ihn Barnaby hin, aber seine Frau war schneller und riß ihn ihm aus der Hand. »Barbara!«
Sie las, was er aufgeschrieben hatte, und gab den Zettel wortlos an Barnaby weiter. Äußerlich wirkte sie ganz ruhig und gefaßt, aber ihre Augen blitzten wie Diamantsplitter.
»Und Sie, Mrs. Lessiter?«
»Ich war in meinem Fitnessclub in Slough... er heißt Abraxas, wenn Sie es nachprüfen wollen. Ich habe zu Mittag einen Salat gegessen, war in der Sauna und habe mich massieren lassen. Ich war bis etwa halb vier dort, dann machte ich einen Einkaufsbummel. Um halb sechs kam ich hierher.«
»Danke. Ist Miss Lessiter zu Hause? Ich würde gern mit ihr sprechen.«
»Nein. Wir sind uns in der Eingangshalle begegnet, als ich heimkam. Sie wollte gerade Weggehen und sah eigenartig aus.«
»Inwiefern?«
»Na ja ... wenn es jemand anders als Judy gewesen wäre, würde ich sagen, sie hätte ein Schäferstündchen mit einem Liebhaber gehabt.«
»Das ist selbst für dich bemerkenswert gehässig«, platzte es aus Lessiter heraus, er bereute jedoch sofort, daß er nicht den Mund gehalten hatte, als er Troys zufriedene Miene sah.
»Sie hat mich verträumt angegrinst - es war das erste Lächeln, das sie mir seit meinem Einzug hier gegönnt hat -und sagte, sie wolle nach High Wycombe fahren und sich ein neues Kleid kaufen. Auch das ist merkwürdig. Mir ist nie aufgefallen, daß sie auch nur das geringste Interesse für ihre Kleidung hat. Was im Grunde ganz verständlich ist, wenn man bedenkt, was für eine unmögliche Figur sie hat.«
Die hat ganz schön Oberwasser, dachte Troy und überlegte, was wohl auf dem Zettel stehen mochte. Heute sah Barbara Lessiter ganz und gar nicht aus wie die Frauen auf den ausklappbaren Seiten in Männermagazinen. Die Falten unter dem bronzefarbenen Gesichtspuder schienen tiefer als das letzte Mal zu sein, ihr Blick war hart und die Frisur gekünstelt und steif. Selbst ihre Kurven schienen starr und unnachgiebig zu sein.
»Dann wird später jemand vorbeischauen, um mit Ihrer Tochter zu reden, Sir«, kündigte Barnaby an und wünschte einen guten Abend. Er hatte kaum die Tür hinter sich zugezogen, als Trevor Lessiter zu seiner Frau herumwirbelte.