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Nachdem sie gegangen war, nahm Barnaby zwei Tabletten und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück und wartete darauf, daß die Medizin ihre Wirkung entfaltete. Es schien von Mal zu Mal länger zu dauern. Vielleicht sollte er in Zukunft gleich drei Tabletten einnehmen. Er lockerte seinen Gürtel und nahm sich die Kindesmißhandlungsakte vor. Das Gesicht auf einer Fotografie grinste ihn an: ein strahlender kleiner Mann, der bereits dreimal verurteilt worden war und später die Stelle des Hausmeisters an einer Grundschule bekommen hatte. Barnaby seufzte, schob den Ordner zur Seite und dachte über Emily Simpson nach.

Nach dreißig Jahren, die er mit Beobachten und Zuhören verbracht hatte, glaubte er fest daran, daß niemand seinem Charakter zuwider handelte. Was die meisten Menschen als Charakter ansahen (die Ansammlung oder den Mangel von gewissen gesellschaftlichen, anerzogenen und materiellen Werten), war meistens nur die Oberfläche. Der wahre Charakter offenbarte sich erst, wenn all die erworbenen Eigenschaften abgelegt wurden. Der Chief Inspector war überzeugt, daß jeder Mensch zu allem fähig war. Eigenartig, aber diese Erkenntnis deprimierte ihn keineswegs. Er hielt seine Sichtweise nicht einmal für pessimistisch, sondern nur für die gesunde, vernünftige Einstellung eines erfahrenen Polizisten.

Trotzdem hatte Miss Simpson an ihrem letzten Tag einige Dinge getan, die ihr jemand, der sie seit ihrer Kindheit sehr gut gekannt hatte, nicht zugetraut hätte. Und das war in der Tat eigenartig. Eigenartig und interessant. Detective Chief Inspector Barnaby hatte sich die Telefonnummer der Samariter aufgeschrieben und wollte sich mit den Leuten in Verbindung setzen. Aber zuerst mußte er einige bürointerne Angelegenheiten klären und ein Wörtchen darüber verlieren, wie Miss Bellringer abgefertigt worden war.

Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage und sagte: »Schicken Sie Sergeant Troy zu mir.«

2

Bei den Samaritern hatte er nicht viel Glück, etwas anderes hätte Barnaby auch nicht erwartet. Verschlossen und wortkarg wie gewöhnlich. Deshalb erschien er auch nach einem zweiten Anruf um sieben Uhr abends persönlich in dem winzigen Reihenhaus hinter Woolworth's und stellte eine bekümmerte Miene zur Schau.

Ein älterer Herr saß an einem Schreibtisch, auf dem zwei Telefone standen. Er drückte den Hörer des einen Apparates an sein Ohr. Als er den Neuankömmling sah, bedeckte er die Sprechmuschel mit der Hand und flüsterte Barnaby zu: »Bitte, nehmen Sie Platz«, dann hörte er wieder dem Anrufer zu und nickte von Zeit zu Zeit ernst. Nachdem er den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, sagte er: »Sie haben vorhin angerufen, weil Sie Terry sprechen möchten?«

Barnaby neigte zustimmend den Kopf - eigentlich hatte er gedacht, daß der ältere Herr Terry sein könnte. »Ganz recht. Wir haben am Freitag telefoniert.«

»Und Sie sind ...?« Er blätterte in einem Dienstbuch.

»Ich möchte meinen Namen lieber nicht nennen«, erwiderte Barnaby wahrheitsgemäß.

Das Telefon klingelte, und beinahe gleichzeitig kamen eine Frau und ein junges Mädchen aus dem angrenzenden Zimmer. Die beiden tauschten einen Händedruck. Barnaby drehte sich zu der Frau um; sie murmelte »Guten Abend« und ging. Das Mädchen sah ihn erwartungsvoll an. Der Mann am Schreibtisch lächelte und wedelte mit der Hand, um Barnaby mit dem Mädchen zusammenzubringen.

Sie war schlank und hübsch mit langem, schimmernd blondem Haar und trug ein ordentliches, kariertes Kleid sowie eine Halskette aus Silberperlen. Barnaby verglich sie ihm Geiste mit seiner eigenen Tochter, die sich bei ihrem letzten Besuch zu Hause in zerfetzten Jeans, Lederweste und mit einem zerzausten Haarschopf präsentiert hatte.

»Wir können uns hier drin unterhalten«, sagte das Mädchen, während es ihn ins Nebenzimmer führte, das mit einem Lehnsessel, einer gepolsterten Bank und einem Kiefernholztisch ausgestattet war. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Margeriten. Barnaby entschied sich für die Bank. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Nein, danke.« Er hatte sich für diesen Besuch keinen bestimmten Plan zurechtgelegt und war bereit, der Situation entsprechend vorzugehen. Im Grunde hatte er damit gerechnet, daß Terry ein ausgefuchster Profi wie er selbst war, und konnte jetzt sein Glück kaum fassen. Er lächelte feierlich und zeigte der jungen Frau seinen Dienstausweis.

»Oh! Aber wir... ich darf nicht.. .was wollen Sie von mir?«

»Soweit ich informiert bin, sind Sie die Person, die am Freitag abend mit Emily Simpson gesprochen hat, ist das richtig?«

»Tut mir leid«, entgegnete sie entschieden, »aber wir geben keine Auskünfte über unsere Klienten. Unser Dienst basiert auf absoluter Diskretion.«

»Das erkenne ich natürlich voll und ganz an«, erwiderte Barnaby, »doch bei einem Todesfall...«

»Einem Todesfall? Wie schrecklich ... Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie selbstmordgefährdet ist. Ich bin hier nur für ein paar Wochen als Freiwillige tätig ... Ich bin noch in der Ausbildung, verstehen Sie?« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Wenn ich das gewußt hätte ... aber die anderen beiden Samariter hatten auf der anderen Telefonleitung Gespräche, und ich dachte, ich könnte das übernehmen... Ich meine, Miss Simpson ...«

»Warten Sie, beruhigen Sie sich doch.« Sie sah mit jeder Minute jünger aus und war jetzt den Tränen nahe. »Soviel wir wissen, kommt Selbstmord nicht in Betracht. Aber die Umstände des Todes sind ungeklärt.«

»Oh? Was für Umstände?«

»Ich hätte gern, daß Sie mir von Miss Simpsons Anruf alles erzählen, was Ihnen noch im Gedächtnis geblieben ist.«

»Tut mir leid, das kann ich nicht. Ich muß erst nachfragen...«

»Ich habe bereits mit Ihrem Direktor Mr. Wainwright gesprochen und kann Ihnen versichern, daß in diesem Fall die Regel außer acht gelassen werden darf.« Er schenkte ihr ein väterliches Lächeln.

»Also ... ich weiß nicht...«

»Sie wollen doch nicht die polizeilichen Ermittlungen behindern, oder?« Sein Lächeln wurde um eine Spur strenger.

»Selbstverständlich nicht.« Ihr Blick huschte zur angelehnten Tür. Barnaby wartete geduldig - vermutlich würde sie sich gleich an die einladende Geste erinnern, mit der der Samariter am Schreibtisch ihn an sie verwiesen hatte. Tatsächlich hellte sich ihre Miene auf, und sie sagte: »Ich erinnere mich noch sehr gut an Miss Simpsons Anruf. An diesem Abend meldeten sich nur drei Leute bei uns ... aber ich kann Ihnen das Gespräch nicht wortwörtlich wiederholen.«

»Das macht nichts. Erzählen Sie mir, was Sie noch wissen. Und lassen Sie sich Zeit.«

»Sie sagte so etwas wie: >Ich muß mit jemandem reden. Ich weiß nicht, was ich tun soll.< Eine Menge Menschen beginnen so oder so ähnlich... Dann fragte ich sie, ob sie mir ihren Namen nennen will - die Anrufer sind dazu nicht verpflichtet, und viele wollen auch anonym bleiben, aber sie gab ihren Namen an. Dann ermutigte ich sie weiterzusprechen und wartete.« Mit rührender Wichtigtuerei fügte sie hinzu: »Unsere Arbeit hier besteht hauptsächlich aus geduldigem Warten.«

»Ich verstehe.«

»Dann sagte sie: >Ich habe etwas gesehen und habe das Gefühl, mit jemandem darüber reden zu müssen.<«

Barnaby wurde hellhörig. »Und hat sie auch gesagt, was sie gesehen hat?«

Terry Bazely schüttelte den Kopf. »Sie sagte, es sei etwas Unglaubliches gewesen.«

Diese Information hielt Barnaby für unerheblich. Ältere, unverheiratete Menschen beiderlei Geschlechts neigten dazu, schon die geringsten Abweichungen von der Normalität für unglaublich anzusehen. Das wurde deutlich, wenn man die Leserbriefe, die in Zeitungen abgedruckt wurden, genauer studierte. Fast alle fingen so an. »Ich war erstaunt, zu sehen zu hören zu beobachten / zu erleben ...«