Ein Mann hatte während (Barnaby überprüfte das anhand anderer Akten) der letzten zehn Jahre zweimal wöchentlich Eier und Gemüse bei Mrs. Rainbird abgeliefert. Ein anderer hatte sie mit Brennholz versorgt. Vor ein paar Monaten hatten diese Lieferungen aufgehört, und Mrs. Rainbird hatte eine gerade Linie unter die Auflistung gezogen und »verstorben« darunter geschrieben. Armer alter Teufel, dachte der Chief Inspector und fragte sich, was der Mann wohl verbrochen haben mochte. Wahrscheinlich war alles ganz harmlos. Die Vorstellungen von richtig und falsch in einem Dorf, besonders bei der älteren Bevölkerung, erschienen moderner denkenden Menschen oft antiquiert. Barnaby schlug einen anderen Schnellhefter auf. Drei Jahre lang zwei Pfund in der Woche, dann nichts mehr. Vielleicht hatte sich das Opfer aus dem Staub gemacht - der einzige Ausweg, um die Zahlungen einstellen zu können. Er las weiter. Fünfzig Pfund im Monat. Ein Pfund pro Woche. Die regelmäßige Wartung von Dennis’ Porsche. Kostenlose Bügelarbeiten, eine Lieferung Ziersträucher für den Garten. Wer hätte gedacht, daß in einem Drei-hundert-Seelen-Nest so viele »Sünden« begangen werden? Und natürlich gab es noch Brown’s, das Bestattungsinstitut. Dennis kurvte in der Gegend von Causton herum, besuchte Hinterbliebene und spendete ihnen in seiner schleimigen, kriecherischen Art Trost. Die Menschen redeten in Phasen der Trauer ungehemmt drauflos, und vor und nach Begräbnissen wurde viel geklatscht. Bei solchen Gelegenheiten konnte man viel Brauchbares aufschnappen. Seine Mutter und er mußten ein ziemlich weitreichendes Gebiet »abgegrast« haben. Barnaby nahm ohne große Erwartungen den nächsten Schnellhefter in die Hand - er hatte keine Ahnung, daß dies die Kammer mit der schußbereiten Kugel war. Die sechste Kammer.
Jetzt brauche ich mir nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie sich den silbernen Wagen oder die Anteile an dem Bestattungsunternehmen leisten konnten, dachte Barnaby, während er die Zahlenreihen studierte. Nummer 117 C hatte Tausende bezahlt. Sogar noch bevor er auf das Datum der ersten Zahlung schaute, wußte er, was er finden würde. Es gab nicht viele Verbrechen, die solche Summen einbrachten. Genaugenommen vielleicht sogar nur eins. Ihn befiel ein Gefühl, das zu stark war, um mit Befriedigung beschrieben zu werden. Er kam sich vor, als schwebe er in höheren Sphären. Die ganze Zeit war es ihm nicht gelungen, sich den Gedanken an Bella Traces Jagdunfall aus dem Kopf zu schlagen. Obwohl offensichtlich klar war, daß es sich tatsächlich um einen Unfall gehandelt hatte und nicht der geringste Beweis für etwas anderes gefunden worden war, hatte Barnaby dieses Ereignis während der ganzen Woche nicht in Ruhe gelassen. Und jetzt hielt er die Bestätigung in den Händen. Ein leises Klopfen ans Fenster riß ihn aus seinen Träumereien.
»Ah, Troy.« Er stieg aus und schlug die Tür zu. »Haben Sie mit Miss Cadell gesprochen?«
»Ja. Sie war den ganzen Tag in ihrem neuen Zuhause, das zumindest hat sie mir erzählt. Ich war auch im Holly Cottage, aber da ist immer noch niemand.« Er beeilte sich, um mit Barnaby Schritt zu halten. »Dieser Mr. Trace scheint endlos viele Cottages zur Verfügung zu haben. Manche Leute brauchen ein Leben lang, um sich so ein Häuschen zu kaufen ...«
»Zeigen Sie mir, wo Phyllis Cadells Cottage ist.«
»Oh, sie hält sich im Augenblick nicht dort auf, Chief Inspector. Sie hat mit mir das Haus verlassen. Sie ißt bei den Traces zu Abend.«
»Gut.« Barnaby überquerte die Straße. »Was für einen Eindruck hat sie auf Sie gemacht?«
»Na ja, sie wußte natürlich noch nichts von dem Mord. Nachdem ich ihr davon erzählt hatte, benahm sie sich ziemlich komisch. Sie lachte lauthals, aber es klang ... ich weiß nicht... Ich glaube, sie hat getrunken.«
Phyllis Cadell stand am Fenster des Zimmers, in dem sie Barnaby und Troy vor wenigen Tagen empfangen hatte. Sie drehte sich um, als sich die Tür öffnete, und sobald Barnaby ihr Gesicht sah, wußte er, daß seine Vermutung zutreffend war. Er trat ein paar Schritte vor.
»Phyllis Cadell, ich nehme Sie fest. Sie stehen unter Verdacht, den Mord an...«
»O nein!« Sie wandte sich abrupt ab und lief zum anderen Ende des Zimmers. »Nicht jetzt... nicht jetzt!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu schreien.
6
Barnaby durchquerte das Zimmer. Als er näher kam, verstummte Phyllis und starrte ihn an. Der intensive Blick, dieses grenzenlose Elend in ihren Augen erhob sie für einen kurzen Moment über alles Triviale und machte sie beinahe zu einer tragischen Figur. Barnaby belehrte sie über ihre Rechte, und Troy, der sich bemühte, den Eindruck zu erwecken, daß er nichts anderes als diese Verhaftung erwartet hätte, holte seinen Notizblock hervor und setzte sich auf den Stuhl neben der Tür.
Phyllis Cadell blickte von einem zum anderen, blinzelte nervös und fragte leise: »Wie haben Sie es herausgefunden?«
»Wir haben einige Unterlagen in Mrs. Rainbirds Bungalow sichergestellt. Ihre Akte war auch dabei.« Sie würde nie erfahren, daß keine Angaben über die Art des Verbrechens in der Akte vermerkt waren und daß das Opfer der Erpresserin nur anhand von drei Zahlen und eines Initials identifiziert wurde. Oder daß Barnaby, da er sonst keine Beweise hatte, gehofft hatte, sie so einschüchtern zu können, daß sie ihre Schuld gestand.
Sie fing tatsächlich an zu reden. »Ich weiß, daß es Ihnen schwerfallen wird, das zu glauben, aber als ich in dieses Haus kam... natürlich war ich damals viel jünger....« Sie richtete niedergeschlagen den Blick auf den Boden - es war nicht zu übersehen, daß sie traurig wegen ihres Alters, ihrer äußerlichen Erscheinung und ihrer Reizlosigkeit war. »Und Henry war... ich tat alles im Haus, wissen Sie, und er war mir so dankbar. Dann... ich spürte, daß aus seiner Dankbarkeit mehr wurde. Bella war immer so beschäftigt. Ihre Stellung im Dorf verlangte, daß sie sich im Gemeinderat engagierte und sich für die Wohltätigkeit einsetzte. Sie war Präsidentin der Frauenorganisation und der örtlichen konservativen Vereinigung. Oh - sie kümmerte sich auf ihre lebhafte, energische Art um Henry, aber sie verbrachte eben die meiste Zeit außer Haus. Er wirkte manchmal so wehmütig und sehnsüchtig ... er saß am Fenster und wartete darauf, daß ihr Wagen in die Einfahrt einbog. Dann eines Abends - ich werde das nie vergessen«, Tränen flossen ihr über das aufgedunsene Gesicht, und ihre Stimme klang belegt, »ich machte Sandwiches - Frischkäse mit Meerrettich. Er nahm meine Hand und sagte: >Phyllis, was würde ich ohne dich anfangen?< Nicht >wir<.« Sie sah Barnaby trotzig an. »Er sagte >ich<. >Was würde ich ohne dich anfangen ?< Verstehen Sie - im Laufe der Zeit wandte er sich mir immer mehr zu. Ich hatte Verständnis für ihn. Ich liebte ihn so sehr, und es erschien mir nur natürlich, daß er anfing, mich auch ein wenig mehr zu mögen. Und dann dachte ich«, ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, »wie glücklich wir beide sein könnten, wenn Bella nicht wäre.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und schwieg so lange, daß Barnaby schon fürchtete, sie würde nie mehr ein Wort von sich geben. Aber gerade, als er etwas sagen wollte, redete sie weiter. »Zwischen mir und meiner Schwester gab es keine Zuneigung. Alle hielten Bella für einen so guten Menschen, weil sie mir ein Zuhause gab, aber sie hätte nie eine Haushälterin gefunden, die sich so für sie und ihren Mann aufopfert, wie ich es getan habe. Und sie prahlte regelrecht mit ihrem Glück. Sie merkte schnell, daß ich Henry sehr mochte. Bella konnte man nicht so leicht etwas vormachen.«
Barnaby setzte sich, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ich habe schon in meiner Jugend gelernt, mit einem Gewehr umzugehen. So ist das eben auf dem Land, man vergnügt sich bei der Jagd. Aber ich konnte es nie leiden, Lebewesen zu töten.« Sie verzog den Mund, als sie begriff, wie widersinnig die Aussage unter diesen Umständen war. »Ich sagte Bella, daß ich froh wäre über eine Abwechslung von der ewigen Hausarbeit und gern mit auf die Jagd gehen würde. Henry war offenbar ein wenig überrascht, aber er freute sich. Ich nahm einen Flachmann mit Wodka mit. Damals habe ich noch nicht sehr viel getrunken. Ich hatte mir keinen endgültigen Plan zurechtgelegt, aber ich war sicher, daß sich eine Gelegenheit bieten würde. Auf der Jagd stellen sich die Leute nicht in einer Reihe auf, und sie bleiben auch nicht zusammen, sie trennen sich und schwärmen in verschiedene Richtungen aus. Aber je mehr Zeit verging, um so unmöglicher erschien es mir, mein Vorhaben auszuführen. Immer stand jemand zwischen mir und meiner Schwester, oder sie entfernte sich zu sehr und kam mir zu nahe. Ich war der Verzweiflung nahe und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich nahm einen Schluck nach dem anderen aus dem Flachmann. Mir war klar, daß ich nie wieder den Mut aufbringen würde, mit ihnen auf die Jagd zu gehen ... all die toten Vögel, das Blut... mir wurde übel dabei. Dann kam mir eine brillante Idee. Ich dachte, niemand würde mir jemals auf die Schliche kommen, wenn ich vorausginge, mich im Gebüsch verstecken und es von dort aus tun würde. Also sagte ich ihnen, daß ich mich nicht gut fühle - vielleicht sagte ich auch, ich würde mich langweilen oder so was - lind machte einen großen Bogen, bis ich vor der Jagdgesellschaft war. Ständig wurden Schüsse abgefeuert. Ich vermute, ich hätte selbst sehr leicht getroffen werden können.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und setzte heiser hinzu: »Ich wünschte bei Gott, es wäre so gewesen. Dann ... habe ich sie erschossen. Es war grauenvoll. Ich sah, wie sie vornüber fiel, und geriet in Panik. Ich sprang auf und rannte und rannte. Das Gewehr warf ich in die Büsche. Nach ein paar Minuten blieb ich stehen und trank den Rest des Wodkas, und erst dann begriff ich ...«